Ausstellung »Down to Earth Space Technology« 4 . – 6 . M a i 2 0 2 3 Kommt vorbei! Mit Science Parcours, Bürgerlabor, Science Café und einem spannenden Vortragsprogramm (geeignet ab 12 Jahren) Fraunhofer-Forum Berlin Anna-Louisa-Karsch-Straße 2 10178 Berlin

2 | 23 Inhalt 20 »Bereit sein, auch einmal ins Ungewisse zu gehen« Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz plädiert für mehr Technologie- Offenheit. Allerdings bezweifelt der Hobby- Pilot, dass er je mit Wasserstoff fliegen wird. 4 38 Titel Höhere Erträge, geringere Verluste Leere Regale, fragile Lieferketten: Was bringt der Lebensmittelproduk- tion mehr Resilienz für Krisenzeiten? Zukunft der Produktion Industrial Metaverse – Fakt oder Fiktion? Den Digitalen Zwilling ins Meeting schicken, Produktionsabläufe virtuell testen – das Metaverse revolutioniert unsere Arbeitswelt. 03 Editorial 06 Kurz gemeldet, Impressum 10 Chance für den Technologiestandort Deutschland Mehr als ein Hype: Das industrielle Metaverse beschleunigt Innovationen und hat das Potenzial, die Volkswirtschaft komplett umzugestalten 20 »Was mir fehlt, ist Zukunfts- 52 KI – und wo bleibt Europa? optimismus!« Im Interview: Oppositionsführer und CDU-Chef Friedrich Merz Abgehängt von den USA und China? Noch ist es nicht zu spät, in Sachen Künstliche Intelligenz einen eigenen europäischen Weg einzuschlagen 24 »Sehr viele Leben retten« Hoffnungsträger: Ein neues Anti- biotikum kann selbst multiresistente Keime attackieren 86 Wie die Industrie von Ameisen lernen kann Die Produktion der Zukunft soll sich nach dem Vorbild der Natur als ganzheitlich vernetztes System organisieren 26 Elektronik – wie gedruckt Das gute alte Papier wird jetzt smart – dank innovativer Produktions- verfahren 10

Weltkulturerbe im Röntgenapparat Wertvolle Benin-Bronzen digitalisiert das Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS gemeinsam mit den Staatlichen Museen zu Berlin. Im Zuge der Aufarbeitung seiner kolonialen Vergangenheit gibt Deutschland die geraubten kulturhistori- schen Objekte, die bisher in rund 20 deutschen Museen zu finden waren, an Nigeria zurück. Die Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftler möchten die bedeutsamen Bronzen in digitaler Form für die Forschung erhalten. Dafür erzeugen die Expertinnen und Experten am Entwicklungs- zentrum Röntgentechnik EZRT des Fraunhofer IIS mittels mo- dernster Röntgen-Computertomographie dreidimensionale Mo- delle der wertvollen Bronze-Reliefs und übersetzen sie in digitale Datensätze. Besonders herausfordernd ist für die Röntgentechnik – neben der Größe und Massivität der Bronzen – das Material, Messing. Um dennoch optimale Tomographie-Bilder anfertigen zu können, nutzen die Forschenden für ihr Vorhaben eine der weltweit größten CT-Anlagen, die sich im EZRT in Fürth befin- det. Bereits seit 2008 entwickelt das Fraunhofer IIS gemeinsam mit Partnern neue Verfahren für die Kulturguterhaltung. Die Infrastruktur für E-Mobilität zu verbessern, ist das Ziel des Projekts eMobiGrid. 2 | 23 Kurz gemeldet Britische Truppen erbeuteten die Benin-Bronzen 1897 aus dem Königreich Edo im heutigen Nigeria. Rund 1100 dieser Objekte befinden sich heute in deutschen Museen. Die Verkehrswende beschleunigen An einem übergreifenden Ladekonzept für unter- schiedliche Fahrzeugtypen arbeitet das Fraunhofer- Institut für Integrierte Systeme und Bauelemente- technologie IISB gemeinsam mit Partnern aus Wis- senschaft und Wirtschaft im Projekt eMobiGrid. Die wachsende Elektromobilität stellt neue Herausforde- rungen an die Infrastruktur: Stationen zum Aufladen der Batterien müssen in das vor Ort vorhandene stati- onäre Energienetz optimal integriert sein und für Per- sonen- und Lastkraftwagen bis hin zu Traktoren und Baumaschinen zur Verfügung stehen. Zudem wollen die Projektpartner gemeinsam darauf hinarbeiten, den Nutzungsgrad erneuerbarer Energien zu steigern. Daher setzen sie auf lokale Gleichspannungsnetze. Diese ermöglichen eine verlustarme Kopplung von Batteriespeichern, Photovoltaikanlagen, Windrädern und Wasserstofftechnologien und entlasten dadurch diejenigen Stromnetze, die nur schwach ausgebaut sind. Zusätzlich puffern sie – indem Batterien der Elektrofahrzeuge ihrerseits für das Laden anderer Geräte genutzt werden können – die Überproduk- tion erneuerbarer Energien ab. 6

2 | 23 Ein audiobasiertes Prüfsystem überwacht, ob Steckverbin- dungen in Automobilen korrekt einrasten. Es hat Klick gemacht Verbindungen zwischen Einzelkomponenten wer- den im Automobilbau nicht mehr geschraubt, geklebt oder geschweißt, sondern per Steckverbindung zu- sammengefügt. Ob die Verbindungen richtig ein- gerastet sind, lässt sich künftig mit einem audioba- sierten Prüfsystem feststellen, das Forschende am Institutsteil Hör-, Sprach- und Audiotechnologie des Fraunhofer-Instituts für Digitale Medientechnologie IDMT entwickelt haben. Dafür erfassen Mikrofone das Klick-Geräusch, Algorithmen analysieren es an- schließend. Das Prüfsystem warnt, sobald es eine nicht richtig gesteckte Verbindung identifiziert hat. Da sich die Klick-Geräusche ähneln, war die Ent- wicklung der Technologie eine Herausforderung: »Wir arbeiten seit vielen Jahren an Akustikverfahren im Bereich der Geräuscherkennung und -analyse. Unser System kann heute sehr nahe beieinander liegende akustische Signale zuverlässig auseinanderhalten und untersuchen«, erläutert Danilo Hollosi, Gruppenleiter Akustische Ereignisdetektion am Fraunhofer IDMT. Selbst im Lärm der Fabrikhallen können die Algo- rithmen einzelne Klicks isolieren und analysieren. Die audiobasierte Technologie passt nicht nur in den Trend, die Fertigungsschritte in der Produktion durch Sensoren zu kontrollieren und dadurch sicherer und zuverlässiger zu gestalten. Sie leistet auch einen spürbaren Beitrag zur Erhöhung der Effizienz und senkt die Kosten. 8 Weniger Lebensmittel verschwenden Bis zu 15 Prozent der industriell hergestellten Brötchen, Bre- zeln und Co. landen nicht auf dem Frühstücksteller, sondern werden aufgrund von Fehl- und Überproduktion vernichtet. Ein intelligentes System, das die Produktqualität entlang der Backstraße mithilfe von Sensoren kontinuierlich erfasst, soll das zukünftig verhindern. Entwickelt wurde es von einem Team des Fraunhofer-Instituts für Entwurfstechnik Me- chatronik IEM zusammen mit Partnern aus Forschung und Industrie im Projekt SensoBack. Die Sensoren erfassen an mehreren Stellen im Herstellungsprozess die Qualitätsvor- gaben hinsichtlich Form, Gewicht oder Teigeigenschaften. So wird es erstmals möglich, den Backprozess Schritt für Schritt entlang der Backstraße zu überwachen, jeden Backschritt mit den Vorgaben zu vergleichen und die einzelnen Prozesse schnell anzupassen. Bei herkömmlichen Anlagen müssen bisher die einzel- nen Prozessparameter, wie etwa die Temperatur, manuell an die verschiedenen Rohstoffeigenschaften wie unterschied- liche Mehlsorten angepasst werden. Das neue System soll den Bäckerinnen und Bäckern nun dabei helfen, die Produktqualität zu optimieren und gleich- zeitig die vorhandenen Ressourcen besser auszunutzen. Auf dem Teller statt in der Tonne: Das Fraunhofer IEM macht Backen mit einem intelligenten Sensorsystem smart.

2 | 23 Industrial Metaverse – Fakt oder Fiktion? Ist das zweidimensionale Internet bald Geschichte? Schon heute macht das Metaverse seine enormen Vorteile für Entwicklung und Produktion deutlich. Von Kathrin Schwarze-Reiter, Fotografie: Maya Claussen 10 Ronja Gaulinger, Fraunhofer IAO

2 | 23 E s ist Montagmorgen und Frida Santos be- tritt ihr Büro. Die junge Frau ist Ingenieurin bei einem mittelständischen Unternehmen, einem der Marktführer im Bereich Solarzel- len, weltweit engagiert, aber ansässig in einer deutschen Kleinstadt. Frida Santos macht sich eine Tasse Kaffee, hält einen kleinen Schwatz mit einer Kollegin und be- reitet sich dann auf das erste Meeting des Tages vor. Sie wechselt dafür in einen Raum, der akustisch und visuell abgeschirmt ist – er hat keine Fenster, die Wände sind schallgedämmt. Die Ingenieurin setzt sich ihre VR-Bril- le auf und betritt damit die Virtual Reality. In der Mitte des virtuellen Besprechungszimmers steht ein großer Tisch. Daran sitzen bereits einige Avatare – Kolleginnen und Kollegen aus Darmstadt, Stuttgart, Bologna und San Diego. Niemand musste fliegen, keiner eine Dienstreise beantragen. So klimaneutral funktioniert Zusammen- arbeit für unsere erfundene Ingenieurin Frida Santos. »Fakt oder Fiktion?«, stellt Dr. Dietmar Laß die Frage. Der Senior-Forschungsmanager aus der Geschäftsstelle des Fraunhofer-Verbundes IUK-Technologie gibt die Ant- wort mit einer klaren Prognose: »Metaverse ist mehr als ein Hype. Sicher ist: Es wird kommen, wie und in wel- chem Ausmaß auch immer.« Dietmar Laß fungiert mit seinem Team als Schnittstelle zwischen den Aktivitäten verschiedener Fraunhofer-Institute im Bereich Metaver- se und dem zunehmenden Interesse großer Unternehmen an der neuen digitalen Wirklichkeit. Der IUK-Verbund entwickelt Metaverse-Technologien und gibt den Unter- nehmen als verlässlicher Partner Orientierung. »Wir be- obachten in den vergangenen Jahren signifikante Invest- ments großer Unternehmen, rasant fortschreitende Technik-Entwicklungen und eine Offenheit für diese Art der Kommunikation.« So prognostiziert Roland Busch, Vorstandsmitglied bei Siemens, einem Kooperationspart- ner der Fraunhofer-Gesellschaft: »Das industrielle Meta- verse wird ein Ort sein, an dem wir Innovationen mit der Geschwindigkeit von Software vorantreiben. Es bietet enormes Potenzial für die Umgestaltung unserer Volks- wirtschaften und Industrien.« Das Metaverse ist eine relevante Chance für den Tech- nologiestandort Deutschland. »Wir können mit unserem Technologie-Knowhow in vielen Bereichen punkten und müssen uns nicht verstecken«, sagt Holger Graf vom Fraun- hofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung IGD. »So werden erweiterte Realität, Softwarelösungen für indus- trielle Geschäftsprozesse, die Virtualisierung und Ver- knüpfung von und mit 3D-Content sowie dezentrale, inter- operable Datenplattformen in Zukunft eine große Rolle spielen. Wichtig ist, nun ein Innovationsökosystem auf- zubauen. Dafür müssen die Digitaltechnologien mit in- dustrieller Basis in Deutschland stärker verknüpft werden.« Siemens Energy baut schon heute Kraftwerke im Me- taverse nach, um vorherzusehen, wann diese gewartet werden müssen. Das Unternehmen verspricht sich davon, die Ausfallzeiten zu reduzieren und so den Kraftwerks- betreibern 1,7 Milliarden Dollar pro Jahr einzusparen. Der Autokonzern BMW plant mit der Omniverse-Platt- form des Grafikprozessor-Herstellers Nvidia eine digita- le Fabrik. »Erst wenn eine Maschine oder ein Bauwerk im digitalen Modell komplett entworfen und validiert ist, wird es in der Wirklichkeit umgesetzt«, sagt Dr. Leif Oppermann, Experte für Mixed and Augmented Reality Solutions am Fraunhofer-Institut für Angewandte Infor- mationstechnik FIT in Sankt Augustin. Prototypen direkt mit den künftigen Nutzern testen Virtual-Reality-Fahrsimulatoren können zum Beispiel genutzt werden, um Prototypen direkt an Metaverse- Usern zu testen und ihr Feedback sofort im Design- und Fertigungsprozess zu berücksichtigen. So wurde am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML ein Simulator für DB Schenker entwickelt, um das Gabel- staplerfahren zu üben. »Die Deutsche Bahn nutzt Künst- liche Intelligenz und Virtual Reality auch für die digi- tale Instandhaltung, sei es, um Schäden zu finden oder zu beheben«, sagt Oppermann. Mechanikerinnen und Mechaniker können erst einmal an digitalen Zügen lernen, wie man sie repariert. »Auch BASF experimen- tiert mit Metaverse-Technologien für virtuelle Labore, virtuelle Showrooms und weltweite 3D-Kollabora tionen.« Unter dem Namen »CyberLänd« hat das Fraunhofer- Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO ge- meinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Produktions- technik und Automatisierung IPA und dem Virtual Dimension Center (VDC) in Baden-Württemberg ein um- fassendes Metaverse-Projekt initiiert. Gefördert durch das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Baden-Württemberg werden die Potenziale des Metaver- se für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft für das Länd- le eruiert. Oberstes Ziel des Projektteams: Erst einmal Verständnis für das komplexe Thema schaffen. »Den Un- ternehmen fehlt es aktuell noch an konkreten Entwick- lungsperspektiven im Metaverse«, sagt Prof. Katharina Hölzle, Leiterin des Fraunhofer IAO und des Instituts für Arbeitswissenschaft IAT der Universität Stuttgart. »Wir betrachten, wie eine interaktive Zusammenarbeit im Me- taverse aussehen kann, wie Digitale Zwillinge umfassend eingesetzt werden können, wie man im Metaverse bezahlt und Weiterbildung on the Job anbietet.« Im nächsten Schritt sollen dann Unternehmen in Ba- den-Württemberg identifiziert werden, die sich bereits 12

2 | 23 »Wichtig ist, ein Innovations­ ökosystem aufzubauen. Dafür müssen die Digital­ technologien mit indus­ trieller Basis in Deutschland stärker verknüpft werden.« Holger Graf, Fraunhofer IGD 14

2 | 23 Industriemaschinen von ZWi Technologies. Da sich Ku- raray in vielen verschiedenen Ländern engagiert, wird es oft sehr kurzfristig mit technischen Problemen kon- frontiert: Eine Maschine geht in Japan kaputt oder ein neuer Mitarbeiter muss dort geschult werden. Eigentlich müsste sich nun ein Experte oder eine Expertin auf den Weg machen – einen Flug buchen, alle anderen Termine für Tage absagen, einen Kindersitter bestellen. Das kostet viele Arbeitstage und viel Geld. Yücel Uzuns Team hat jedoch eine Lösung entwickelt – ein System, mit dem eine Fachkraft in Sekunden vor Ort ist: Mit einer HoloLens 2 und einer VR-Brille – kann der deutsche Experte über das Metaverse mit dem Werks- mitarbeiter in Japan kommunizieren, als wären sie im selben Raum. Auch gibt es einen Digitalen Zwilling der Maschine, die gewartet werden muss. »Beide können als Avatare auftreten, miteinander sprechen und an der vir- tuellen Maschine arbeiten«, sagt Yücel Uzun. »Der Exper- te aus Deutschland kann zudem ganz einfach Anleitun- gen und wichtige Anmerkungen im virtuellen Raum rüberschicken, um dem Werksmitarbeiter zu helfen.« Yücel Uzun testet zum Beispiel das virtuelle 3D-Mo- dell eines Granulators – die Maschine sammelt überschüs- sige Folie auf und granuliert sie zu Staub. »Das hört sich einfach an, ist es aber nicht. Wir wissen nun, dass Mit- arbeiter im Metaverse an der Maschine trainieren oder diese direkt reparieren können, wenn sie kaputt ist.« Von einem Werksmitarbeiter in der Fabrik werden die An- passungen dann ausgeführt. »Wir müssen eine Haltung entwickeln, wie man Missbrauch ausschließt.« Vordenker des Metaverse hoffen, dass das Internet der Zukunft dezentral laufen wird – also von niemandem, keinem Staat, keinem Unternehmen, kontrolliert wird. Dadurch könnten die verschiedenen Plattformen mitei- nander verbunden und Elemente von einer Umgebung in die nächste mitgenommen werden. Doch diese Liberalität birgt auch viele Risiken. »Zentrale Kritikpunkte betreffen juristische Unsicherheiten im internationalen Kontext, den Umgang mit Nutzerdaten und geistigem Eigentum, die Gefahr krimineller Aktivitäten, den hohen Ressour- ceneinsatz und die Verstärkung von Tendenzen des Web 2.0.«, sagt Dr. Leif Oppermann, Experte für Mixed and Augmented Reality Solutions am Fraunhofer FIT. »Wenn Digitale Zwillinge von Fabriken oder Maschinen im Metaverse nach Bauart der herkömmlichen Internet- Geschäftsmodelle verwendet werden, sind die Unsicher- heiten für Unternehmen zu groß.« Er rät dazu, sich mit der Technik auseinanderzusetzen, um die Vorteile zu der »Das Metaverse wird zu einer Erweiterung unseres Handlungsspielraums – und hat enormes Potenzial für die Arbeitswelt.« Prof. Vanessa Borkmann, Fraunhofer IAO 16

2 | 23 übertragen. Dabei dient das Metaverse als Plattform für die schnelle Prototypisierung von Stadtplanung und -ent- wicklung. »Mit diesen Digitalen Zwillingen können wir Zukunftsszenarien simulieren und für Investoren oder Nutzer greifbar machen«, sagt Ronja Gaulinger, Wissen- schaftliche Mitarbeiterin am Fraunhofer IAO im For- schungsbereich Stadtsystemgestaltung. Es können nicht nur eine komplette Stadt, sondern auch einzelne Gebäu- de in der virtuellen Welt gebaut werden, an denen For- scherinnen und Forscher verschiedene Ausstattungen durchspielen und nach Problemen suchen. »Investoren können so erst einmal virtuell in ein Gebäude hineinge- hen, bevor es gebaut wird«, sagt Gaulinger. Auch im Rahmen des Innovationsnetzwerks »Future- Hotel« des Fraunhofer IAO wird das Metaverse genutzt, um die Frage zu beantworten, wie das Hotel der Zukunft aussehen könnte (siehe auch S. 56). Aber auch Urlauber können beispielsweise Hotels oder Reiseziele erst einmal im Metaverse besuchen, um dann den perfekten Urlaub im echten Leben zu buchen. »Das Metaverse stellt einen Wendepunkt für Unternehmen dar.« Inwieweit diese neue Technologie, die ähnlich revolutio- när wie die Einführung des Smartphones sein könnte, tatsächlich unseren individuellen Alltag verändert, ist noch schwer abzuschätzen. »Werden wir noch weniger Zeit an der frischen Luft und mit echten Menschen ver- bringen? Oder schenkt uns die Technik gerade diesen Freiraum?«, fragt Katharina Hölzle. »Vielleicht entwickelt sich hier auch eine Gegenbewegung, die abseits des Di- gitalen das Echte und Berührbare sucht und abseits des Metaverse die realen Kontakte wieder mehr verfestigt.« Sicher ist: Das Metaverse wird die Industrie in Deutsch- land grundlegend verändern. Vor allem für den Innova- tionsprozess von Unternehmen hat es enorme Vorteile. In der Ideenphase könnten Kunden und Lieferanten aus der ganzen Welt, die über die erforderliche Ausrüstung verfügen, schnell und einfach über das Metaverse ein- gebunden werden, sodass Produkt- und Serviceideen noch stärker auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnitten wer- den können. Bewertung und Auswahl von Alternativen werden beschleunigt, denn bereits im Planungsprozess können die Produkte wie ein Auto oder eine Waschma- schine virtuell simuliert und getestet werden. Die Er- kenntnisse, die die Unternehmen daraus gewinnen, kön- nen dazu genutzt werden, die Produkte unkompliziert zu verbessern. In kurzer Zeit sind die neuen Produktions- daten dann in die Fabriken gesendet, die überall auf der Welt stehen. So berechnet eine Studie des Wirtschaftsprüfers McKinsey, dass das Metaverse bis zum Jahr 2030 einen Wert von bis zu fünf Milliarden Dollar erreichen kann. 95 Prozent der befragten Führungskräfte erwarten, dass das Metaverse innerhalb von fünf bis zehn Jahren einen positiven Einfluss auf ihre Branche haben wird. 31 Pro- zent glauben, dass es die Arbeitsweise ihrer Branche grund- legend verändern wird. »Das Metaverse stellt einen Wende- punkt in der Strategie für Unternehmen dar«, sagt Metaverse-Experte Dietmar Laß. Für ihn ist klar: Es ist einfach zu groß, um es zu ignorieren. Der Weg zum Zwillingspaar Der Digitale Zwilling wird immer mehr Vorzüge für die Industrie generieren. Um das Thema »Zwilling« für die Fotografie zu inszenieren, stellten sich Foto - grafin Maya Claussen und ihr Assistent Jacek Wesolowski an die Seite der Fraunhofer-Forschen- den, damit die Interaktivität mit dem Avatar möglichst natürlich festgehalten werden konnte. 18

»Was mir fehlt, ist Zukunfts- optimismus!« Als CDU-Vorsitzender und Oppositionsführer plädiert Friedrich Merz für mehr Technologie-Offenheit. Als Hobby-Pilot bleibt er skeptisch, ob er jemals mit Wasserstoff fliegen wird. Interview: Josef Oskar Seitz 2 | 23 2 | 23 Interview Friedrich Merz, 67, vor seinem Büro als Fraktionsvorsitzender der Union im Jakob- Kaiser-Haus des Bundestags in Berlin. 20

2 | 23 1989: Wahlkampf mit Seitenscheitel Bis 1994 gehört Frie drich Merz dem Europäischen Parla - ment an. Schon als Gymnasiast war er in die CDU eingetreten. 2016: Party-Foto in Berlin CDU-Vize Julia Klöckner und Bayerns Wirt- schaftsministerin Ilse Aigner begeistern sich für Merz. Im Hinter- grund: Thomas Gott- schalk, Carsten Masch- meyer, Dorothee Bär. 2021: Vier Jahrzehnte verbunden Schon als Jura-Stu- denten haben Friedrich und Charlotte Merz einander kennen- gelernt. Sie sind seit 41 Jahren verheiratet. 2021: Der Mann im Hintergrund Als CDU-Vorsitzenden muss Merz den späte - ren Kanzlerkandidaten Armin Laschet an sich vorbeiziehen lassen. 22 Fachkräfte erhalten so den gesamten Service aus einer Hand: von der Arbeitsplatzvermitt- lung, der Prüfung der Voraussetzungen für die Einreise über das nötige Visum bis hin zum Aufenthaltstitel nach Ankunft in Deutsch- land. Die Bundesagentur für Einwanderung übernimmt alle Verfahren der Einwanderung, die zurzeit bei den deutschen Auslandsver- tretungen und bei den Ausländerbehörden der Landkreise und Kommunen geführt werden und die keine Asylverfahren sind. Diese Ein- wanderungsagentur arbeitet von Beginn an ausschließlich auf der Basis digitaler Verfahren und wird mit modernster Technik ausgestattet. Sie ist auch Arbeitsvermittlungsagentur für alle Arbeitskräfte aus dem europäischen und nicht- europäischen Ausland. Wie werden Ihre Enkel arbeiten? Vermutlich noch sehr viel digitaler und mobi- ler. Auch noch vielfältiger. Sie werden – anders, als ihre Eltern und Großeltern – nicht den einen Beruf ergreifen, behalten und bis zum Ruhe- stand ausüben. Macht Ihnen die Zukunft Sorge? Ich glaube, dass in unserem Land immer noch genug Dynamik und Kraft steckt, um viele Dinge wirklich gut zu lösen. Was mir fehlt, ist dieser Zukunftsoptimismus auch in der politi- schen Führung unseres Landes. Deutschland versteckt sich zu viel. Ich merke das auf jeder Auslandsreise. Wenn ich zurückkomme, egal aus welchem Land, dann bringe ich immer den Eindruck von meinen Gesprächspartnern mit, dass von uns mehr erwartet wird, als wir lie- fern. Und dass wir umgekehrt meinen, weniger liefern zu müssen, als da draußen wirklich er- wartet wird. Wir machen uns kleiner, als wir im Blick von außen tatsächlich sind. In Ihrer Wahrnehmung verzwergen wir uns fahrlässig? Ja, ein Stück weit sicherlich. Wie nehmen Sie die Innovationskraft in unserem Land wahr? Teilweise atemberaubend gut. Wir haben KI-Institute in Deutschland, wir haben tolle Entwicklungen im Bereich modernster Techno- logien, wir sind ein Land, das im Bereich der Wasserstofftechnologien vieles kann, auch im Bereich der regenerativen Technologien. Wir sind ein Land, das Biotechnologie kann – siehe Biontech, siehe CureVac. Und bleiben wir bei dem Beispiel: Kaum sind diese beiden Unter- nehmen groß genug, um richtig zu produzieren, brauchen sie Kapital – und wo gehen sie hin: nach New York an die Börse. Das ist für sich ge- nommen schon nicht schön. Was ich wirklich problematisch finde, ist noch etwas anderes: dass es in diesem Land offenbar kaum jemand bemerkt. Darüber wird ja praktisch gar nicht diskutiert. Oder schauen Sie aufs andere Ende der Skala: Da geht ein Unternehmen Linde aus dem deutschen Aktienindex heraus, weil es zu groß wird, und so ein Thema findet auf den hin- tersten Seiten der Wirtschaftszeitungen statt. Was kann, was soll die Forschung für eine erstrebenswerte Zukunft beitragen? Es braucht eine Beschleunigung von Planungs- verfahren nicht nur bei Windrädern, sondern auch für den Ausbau der digitalen Infrastruk- tur. Wir müssen uns doch die Frage stellen: Wo wollen wir in zehn Jahren stark sein? Pharma, Biotechnologie, Maschinenbau, Umwelttechno- logien oder Künstliche Intelligenz, die Verknüp- fung von Digitalisierung und Dekarbonisierung – überall liegen Möglichkeiten für neue Wert- schöpfung am Wirtschaftsstandort Deutsch- land. Soziale Marktwirtschaft und der Wettbe- werb bringen die besten Innovationen hervor. Nur so können wir unseren Wohlstand erhalten. Neben der notwendigen Infrastruktur müssen aber zum Beispiel auch bereits von der Vorgän- gerregierung aufgesetzte Prozesse wie der On- linezugang zu Behördendienstleistungen und der Umgang mit Daten vorangebracht werden.« Stichwort Innovationskraft: Wann werden Sie als begeisterter Pilot mit Wasserstoff fliegen? Schwer zu sagen. Wahrscheinlich, so zumindest meine Einschätzung, eher mit synthetischen Kraftstoffen. Wasserstoff ist für den Flugbetrieb noch sehr poblematisch, Sie müssen mit hohen Minusgraden und extrem hohem Druck tanken. Haben Sie den Eindruck, dass Forschung in Deutschland breit genug aufgestellt ist? Mir fehlt, auch in unserer gesellschaftspoliti- schen Debatte, die Bereitschaft zum 360-Grad- Blick. Wir schließen zu viele Dinge zu früh aus. Und wir steigen aus, bevor wir wissen, wo wir stattdessen einsteigen. Wir sind aus der Kernenergie ausgestiegen – und das vor zwölf Jahren –, und wir wissen bis heute nicht, wo wir einsteigen wollen. Wir steigen jetzt aus dem

2 | 23 »Sehr viele Leben retten« Ein Forschungsteam hat ein neues Antibiotikum gefunden, dessen besondere Wirkweise auch multiresistente Keime attackiert. Vor allem Patientinnen und Patienten mit Lungenerkrankungen könnte so viel besser geholfen werden. Von Mehmet Toprak F ast fünf Millionen Menschen weltweit starben 2019, weil ihnen Antibiotika nicht mehr gegen Infektionskrankheiten helfen konnten. Auf zehn Millionen To- desopfer könnte die Zahl bis 2050 durch die Ausbreitung multiresistenter Keime steigen. So geht es aus der Studie eines internationalen Teams von Wissenschaft- lerinnen und Wissenschaftlern hervor, die 2022 im Medizinjournal »The Lancet« publiziert wurde. Das als AMR (Antimi- crobial Resistance) bekannte Phänomen der Resistenz von Keimen und Krank- heitserregen gegenüber Antibiotika stellt mittlerweile eine der größten Gefahren für die öffentliche Gesundheit dar. Fach- leute sprechen von einer schleichenden Pandemie. Im Kampf gegen multiresistente Keime gibt es nun einen neuen Hoffnungsträger. Einem Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ist es gelungen, einen Naturstoff zu identifizieren, der in der Lage ist, sogenannte gramnegative Krank- heitserreger wirksam zu attackieren. Da robactin, so sein Name, könnte als An- tibiotikum gegen die gefürchteten gram- negativen Keime Pseudomonas aerugino- sa eingesetzt werden. Sie gehören zu den gefährlichsten Keimen in Krankenhäusern. Hier sind sie die Hauptursache für Lun- genentzündungen, aber auch für Wund- infektionen oder Herzerkrankungen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat Pseudomonas aeruginosa ganz oben auf ihre »Top Priority List« der Bakterien ge- setzt, gegen die dringend neue Antibiotika entwickeln werden müssen. Ein führendes Mitglied des Forschungs- teams, dem die Entdeckung des antibiotisch wirksamen Darobactin gelang, ist Prof. Till Friedrich Schäberle. Er leitet die Abteilung Naturstoffforschung am Fraunhofer-Ins- titut für Molekularbiologie und Angewand- te Oekologie IME in Gießen und hat eine Professur an der Justus-Liebig-Universität (JLU) inne. In der aktuellen Studie haben die Forschenden aus Gießen mit der Pädi- atrischen Infektiologie des Klinikums der Universität München (LMU) zusammen- gearbeitet. Schäberle und sein Team waren bereits 2019 an einem internationalen Ver- bund von Forschenden beteiligt, der die Wirksamkeit von Darobactin gegen gram- negative Bakterien entdeckt hatte. Seitdem haben sie die Wirksamkeit in Labortests kontinuierlich weiter optimiert. Attacke, bis sich das Bakterium auflöst Darobactin ist ein kleines Peptid, eine Verbindung von nur sieben Aminosäu- ren, deren Moleküle aber so miteinander verknüpft sind, dass es sehr stabil ist. Das Besondere an Darobactin ist sein Wirk- mechanismus. Gramnegative Keime haben als Schutz eine zusätzliche Hülle, bestehend aus einer Proteinstruktur. Her- kömmliche Antibiotika können gegen die- se Pathogene nichts ausrichten, wenn sie einmal resistent geworden sind. Die Vor- teile der Darobactine erklärt Schäberle: »Sie attackieren eine Zielstruktur, die von marktüblichen Antibiotika nicht genutzt wird und direkt in der schützenden Hül- le liegt. Hier hemmen sie ein essentielles Protein, was dazu führt, dass das Bakte- rium nicht mehr lebensfähig ist und sich auflöst.« Hinter dieser nüchternen Erklärung des Wissenschaftlers verbirgt sich viel. »Es gibt seit 60 Jahren keine wirklich innova- tiven Antibiotika mehr gegen gramnega- tive Erreger«, freut sich Schäberle. »Deshalb ist Darobactin ein Durchbruch.« Entdeckt wurde der Kandidat für ein neues Antibiotikum mit klassischen Ak- tivitätstests. Dabei werden durch Fermen- tation gewonnene Bakterienextrakte auf pathogene Keime angesetzt. Dann prüfen die Forscherinnen und Forscher, ob die pathogenen Keime im Wachstum gehemmt werden. Haben sie einen Treffer, beginnen sie die aktive Substanz und ihre Wirk weise 24

2 | 23 Elektronik – wie gedruckt Ein Paket schlägt selbstständig Alarm, wenn es zu Boden gefallen ist: Wie das gute alte Papier den Halbleitermarkt revolutionieren kann. Von Stefanie Smuda Das Sensorlayout wird mit verschiedenen Drucktinten für Leiterbahnen und Sensoren aufgebaut – eine der Herausforderungen ist die präzise Ausrichtung. 26

2 | 23 Bienengift gegen Krebs? Der Frühling ist da und mit ihm die Bienen. Forscherinnen und Forscher haben sich auf die Suche nach einer Art gemacht, deren Gift vor allem auf Krebszellen wirkt. Von Kerstin Beckert D ie Tage sind wieder länger, die Tempera- turen steigen, die Natur erwacht zu neu- em Leben. Wer genau hinschaut, kann nun eine Vielzahl von Tieren entdecken. Tim Lüddecke vom Fraunhofer-Institut für Moleku- larbiologie und Angewandte Ökologie IME in Gießen schaut auch bei kleinen Tieren genau hin. »Gerade sie haben oft sehr filigrane Methoden entwickelt, um so- gar Feinde abzuwehren, die um ein Vielfaches größer sind.« Hochwirksame Gifte gehören dazu. Und die können nicht nur zur Abwehr nützlich sein. Der Biochemiker und promovierte Biologe Lüd- decke leitet am Fraunhofer IME die Arbeitsgruppe »Animal Venomics«. Giftige Tiere sind seine Leiden- schaft. Dabei interessiert er sich nicht so sehr für die schädliche Wirkung der Toxine, sondern für deren potenziellen Nutzen in der Medizin. Der Verlust von Biodiversität ist seiner Meinung nach auch ein Ver- lust von Bioressourcen. Denn jedes Tier habe seinen eigenen Giftcocktail. Stirbt eine Art aus, bevor sie untersucht wurde, sei »dies eine vertane Chance für einen neuen Wirkstoff«. Bewährtes Heilmittel Daher war es für Lüddecke naheliegend, sich auch mit dem Gift der Stechimmen (Bienen, Wespen und Ameisen) zu beschäftigen. Die Tiere nutzen es, um ihre Brut vor Parasiten zu schützen, zur Jagd oder um Feinde abzuwehren – etwa hungrige Bären, die sonst bei der Honigsuche einen Bienenstock zerstören. Das Gift der Honigbiene setzen Menschen schon seit Jahrhunderten als Heilmittel ein: gegen Bakterien, Viren, Pilze, es fördert die Durchblutung oder senkt den Cholesterinspiegel. Der Giftcocktail besteht aus einer wässrigen Lösung mit Feststoffanteil. In diesem finden sich Enzyme, kleinere Mengen diverser Eiwei- ße, Duftstoffe, Zucker und Histamin. »Hauptsächlich enthält es zu etwa 50 Prozent das Melittin«, erklärt Toxinologe Lüddecke. Das zerstört das Gewebe rund um die Einstichstelle, integriert sich in die Zellmem- bran der roten Blutkörperchen und macht diese löch- rig bis zur Zerstörung. In einem Verbundprojekt des LOEWE-Zentrums für Translationale Biodiversitäts- genomik (LOEWE-TBG), das außer Lüddecke und sei- nem Team rund 20 Forschungsgruppen umfasst, su- chen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Variante des Melittins, die medizinisch besser nutzbar ist. Acht Bienenarten kamen in die engere Wahl. Neben der Honigbiene gehörten auch Wildbie- nen dazu. Diese sind entwicklungsbiologisch über 50 Millionen Jahre älter. Zudem leben viele von ihnen solitär, sind also Einzelgänger, die keinen Bienenstock verteidigen müssen. Daher lag die Vermutung nahe, 28

2 | 23 Ein Diamant für mehr Bewegungsfreiheit Ein rötlich leuchtender Edelstein, der gelähmten Menschen mehr Bewegungs freiheit schenkt? Klingt nach Magie, ist es aber nicht. Diamantene Sensoren könnten die präzisere Steuerung von Exoskeletten ermöglichen. Von Yvonne Weiß NV-Diamanten fluoreszieren rot. Sie entstehen vollständig im Labor. Mobile Hand- Exoskelette nutzt Prof. Soekadar, um Greifbewegungen zu trainieren. Je Hand wiegen sie knapp 400 Gramm. 30

2 | 23 Wund(erbar) Ein biologisch abbaubares Faservlies aus Kieselgel erlaubt neue Anwendungen im Körperinneren: Mit der Renacer®-Membran könnten Operationswunden besser heilen und Medikamente direkt im Gehirn zur Wirkung kommen. Von Dr. Monika Offenberger W er großf lächige Wunden oder Verbrennungen behan- deln will, steht vor einem Problem: Einerseits soll das Verbandsmaterial regelmäßig gewechselt, andererseits soll die natürliche Wund- heilung nicht gestört werden. Besonders deutlich zeigt sich dieses Dilemma bei schlecht heilenden chronischen Wunden, etwa an den Füßen von an Diabetes Er- krankten. »Aktuell am Markt erhältliche Materialien müssen meist alle drei Tage entfernt werden. Dabei wird die Wund- ruhe gestört, was die Heilung verzögert«, sagt Dr. Bastian Christ, Chemiker am Würzburger Fraunhofer-Institut für Si- licatforschung ISC. Die Lösung bietet ein am ISC entwickeltes Faservlies aus resor- bierbarem Kieselgel. »Unser offenmaschiges Vlies wird pass- genau zur Wundgeometrie zugeschnitten und dann direkt in die Wunde hineinge- legt, damit die Faserenden Kontakt zu ge- sunden Hautzellen haben. Von dort können dann Bindegewebszellen über die Faser- struktur in die Wunde einwandern und sich vermehren«, erläutert Christ. In einer klinischen Studie waren fast alle solcher- art behandelten Wunden am diabetischen Fuß innerhalb von sechs bis acht Wochen gänzlich verheilt. Das Fraunhofer ISC- Material hatte lange genug seine Form be- wahrt, bis die Zellen ein neues Gewebe gebildet hatten – und sich erst dann voll- ständig biologisch abgebaut. Diese Eigenschaften zeichnen das Kie- selgel-Vlies gegenüber nicht abbaubaren Wundauflagen wie Zellstoff aus – aber auch gegenüber biologisch resorbierbaren Ma- terialien wie Kollagen, Polymilchsäure und Polyglykolsäure: Faservliese aus die- sen Materialien sind nicht formstabil, son- dern ziehen sich mit der Zeit zusammen und werden dichter; dabei verlieren sie den Kontakt zu den gesunden Zellen, die in das zunehmend enger werdende Faser- geflecht ohnehin nicht mehr einwachsen könnten. Anders als die bis zuletzt form- stabile Fraunhofer-Entwicklung sind sie also zur dauerhaften Einlage in Wunden weniger geeignet. Ein weiterer Vorteil der Kieselgel-Fasern: Sie zersetzen sich voll- ständig und ausschließlich in Monokiesel- säure. »Das ist ein kleines, wasserlösliches Molekül, das überall in der Natur und auch in der Gewebeflüssigkeit unsere Körpers vorkommt. Zusätzlich ist es bioaktiv und unterstützt im Körper den Aufbau von Haut, Bindegewebe, Haaren und Nägeln«, erklärt Dr. Christina Ziemann vom Fraun- hofer-Institut für Toxikologie und Expe- rimentelle Medizin ITEM in Hannover. Anders als ihr Name vermuten lässt, trägt die Monokieselsäure nicht zur Über- säuerung bei – auch das ist ein Vorteil ge- genüber anderen biodegradierbaren Ma- terialien. Denn diese lösen sich oft zu organischen Säuren wie Milchsäure oder Glykolsäure auf und können zur Übersäu- 32

2 | 23 erlaubt sie aber den Austausch von Nähr- stoffen und anderen Biomolekülen. »Das kann man sich in der regenera- tiven Medizin zunutze machen«, erläutert Christ: »Wenn wir die Maschen offen ge- nug gestalten, können wir eine dem Kol- lagen ähnliche Struktur im Körper nach- ahmen und über mehrere Wochen formstabil halten, während sie sich abbaut. In dieser Zeit können sich darauf Binde- gewebszellen ansiedeln. Es wäre also denk- bar, dass wir analog zu äußeren Hautwun- den auch im Inneren des Körpers die Wundheilung unterstützen könnten.« Im Brutschrank kultivierte menschliche Fibroblasten verhalten sich tatsächlich wie von dem Chemiker erwartet: Sie wachsen binnen weniger Tage in ein Stück Vlies ein und haben es nach zwei Wochen vollstän- dig durchdrungen. Nicht immer ist dieser Effekt erwünscht. So will man beispiels- weise nach einer Operation an Darm oder Gebärmutter die Wunde von umgebendem Gewebe abschirmen, um Verwachsungen mit dem Bauchfell zu vermeiden. In diesem Fall könnte ein möglichst engma- schiges Kieselgel-Vlies als schützende Bar- riere die Wunde gegen einwandernde Bin- degewebszellen abschirmen – um sich später in Monokieselsäure aufzulösen. Nicht nur der Faserdurchmesser und die Maschendichte der Renacer®-Membran lassen sich variieren. Das neuartige Vlies kann auch mit therapeutischen Wirkstof- fen beladen werden, die es während seiner Zersetzung wieder freigibt. Mit diesem in- novativen System einer Wirkstoffverabrei- chung eröffnen sich neue Therapieoptionen für die Wundheilung, erläutert Christ: »Wir könnten unsere Membran beispielsweise mit einem Antibiotikum bestücken, das in die Wunde abgegeben wird, um bakteriel- len Infektionen vorzubeugen.« Ein weiteres Anwendungsfeld bieten aggressive Hirntumore wie das Glioblas- tom. Den rund 3000 Menschen, die jedes Jahr allein in Deutschland daran erkran- ken, verbleiben im Mittel nur 15 bis 20 Monate Lebenszeit – selbst wenn sie alle verfügbaren Therapien erhalten: Zunächst wird der Tumor so weit wie möglich aus 34 winden, müssen systemisch verabreicht werden, sprich: Sie gelangen über das Blut überallhin statt nur an den Tumor – und entfalten im übrigen Körper für die Patien- ten oft sehr belastende Nebenwirkungen. »Besser wäre es, die Medikamente lo- kal direkt im Gehirn auszubringen, um ihre Wirkung zu steigern und Nebenwir- kungen möglichst gering zu halten«, be- tont Diplom-Biologe Hagemann. So ent- stand die Idee, die Renacer®-Membran zur Behandlung von Glioblastomen zu nutzen. »Wir wollen unsere Kieselgelfasern mit zwei bereits zur Krebstherapie zugelasse- nen Wirkstoffen modifizieren, die dann direkt am ursprünglichen Ort des Tumors freigesetzt werden sollen«, erklärt Dr. So- fia Dembski, die das Team Biomaterialien am Fraunhofer ISC leitet. Wie das gelingen könnte, beschreibt Carsten Hagemann: »Wir stellen uns vor, dass man die Opera- tionshöhle nach der Tumorresektion mit dem arzneibeladenen Vlies zumindest an den Wänden auskleidet oder sogar ganz ausfüllt. Der Vorteil dieses Materials ist ja, dass es flexibel ist und sich anpassen kann, wenn sich Form oder Volumen der Resek- tionshöhle verändern. Während sich die Kieselgelfasern zersetzen, geben sie kon- stant die Zytostatika ab. Wenn das direkt am Tumorrandgewebe geschähe, könnten sie dort mit maximaler Wirksamkeit ein neuerliches Tumorwachstum hemmen.« Ob sich diese Vision zukünftig reali- sieren lässt, wollen die Forschungsteams von Fraunhofer ISC und Klinikum zunächst an zwei- und dreidimensionalen Zellkul- turen ausloten. Dazu soll bei Operationen entnommenes Tumor gewebe – mit Ein- verständnis der betroffenen Patienten – in Kultur genommen und mit der wirkstoff- beladenen Renacer®-Membran in Kontakt gebracht werden. Das Pilotprojekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 1,6 Millionen Euro geför- dert. »In drei Jahren wollen wir eine wirk- same Methode entwickeln, mit der sich die derzeitigen Therapiemöglichkeiten von Glioblastomen erweitern lassen«, so Hage- mann: »Wir hoffen, dass wir damit die Überlebenszeiten der Betroffenen bei guter Lebensqualität verlängern können.« C S I r e f o h n u a r F : o t o F »Wir wollen unsere Kieselgelfasern mit zwei bereits zur Krebs therapie zugelassenen Wirkstoffen modifi­ zieren, die dann direkt am ursprüng­ lichen Ort des Tumors freigesetzt werden sollen.« Dr. Sofia Dembski, Fraunhofer ISC dem Hirngewebe herausoperiert, dann be- strahlt, mit Chemotherapeutika behandelt und schließlich elektrischen Wechselfel- dern ausgesetzt. »Dennoch schaffen wir es nicht, alle Tumorzellen abzutöten. So entstehen regelmäßig neue Tumorherde, die schließlich zum Tod der Betroffenen führen«, erklärt Prof. Carsten Hagemann, Leiter der Sektion Experimentelle Neuro- chirurgie an der Neurochirurgischen Kli- nik und Poliklinik des Universitätsklini- kums Würzburg. Viele hochwirksame Krebsmedikamente kommen für die Behandlung von Glioblas- tomen nicht infrage, weil sie die Blut-Hirn- Schranke nicht passieren können. Und auch jene Wirkstoffe, die diese Barriere über-

2 | 23 erlaubt sie aber den Austausch von Nähr- stoffen und anderen Biomolekülen. »Das kann man sich in der regenera- tiven Medizin zunutze machen«, erläutert Christ: »Wenn wir die Maschen offen ge- nug gestalten, können wir eine dem Kol- lagen ähnliche Struktur im Körper nach- ahmen und über mehrere Wochen formstabil halten, während sie sich abbaut. In dieser Zeit können sich darauf Binde- gewebszellen ansiedeln. Es wäre also denk- bar, dass wir analog zu äußeren Hautwun- den auch im Inneren des Körpers die Wundheilung unterstützen könnten.« Im Brutschrank kultivierte menschliche Fibroblasten verhalten sich tatsächlich wie von dem Chemiker erwartet: Sie wachsen binnen weniger Tage in ein Stück Vlies ein und haben es nach zwei Wochen vollstän- dig durchdrungen. Nicht immer ist dieser Effekt erwünscht. So will man beispiels- weise nach einer Operation an Darm oder Gebärmutter die Wunde von umgebendem Gewebe abschirmen, um Verwachsungen mit dem Bauchfell zu vermeiden. In diesem Fall könnte ein möglichst engma- schiges Kieselgel-Vlies als schützende Bar- riere die Wunde gegen einwandernde Bin- degewebszellen abschirmen – um sich später in Monokieselsäure aufzulösen. Nicht nur der Faserdurchmesser und die Maschendichte der Renacer®-Membran lassen sich variieren. Das neuartige Vlies kann auch mit therapeutischen Wirkstof- fen beladen werden, die es während seiner Zersetzung wieder freigibt. Mit diesem in- novativen System einer Wirkstoffverabrei- chung eröffnen sich neue Therapieoptionen für die Wundheilung, erläutert Christ: »Wir könnten unsere Membran beispielsweise mit einem Antibiotikum bestücken, das in die Wunde abgegeben wird, um bakteriel- len Infektionen vorzubeugen.« Ein weiteres Anwendungsfeld bieten aggressive Hirntumore wie das Glioblas- tom. Den rund 3000 Menschen, die jedes Jahr allein in Deutschland daran erkran- ken, verbleiben im Mittel nur 15 bis 20 Monate Lebenszeit – selbst wenn sie alle verfügbaren Therapien erhalten: Zunächst wird der Tumor so weit wie möglich aus 34 winden, müssen systemisch verabreicht werden, sprich: Sie gelangen über das Blut überallhin statt nur an den Tumor – und entfalten im übrigen Körper für die Patien- ten oft sehr belastende Nebenwirkungen. »Besser wäre es, die Medikamente lo- kal direkt im Gehirn auszubringen, um ihre Wirkung zu steigern und Nebenwir- kungen möglichst gering zu halten«, be- tont Diplom-Biologe Hagemann. So ent- stand die Idee, die Renacer®-Membran zur Behandlung von Glioblastomen zu nutzen. »Wir wollen unsere Kieselgelfasern mit zwei bereits zur Krebstherapie zugelasse- nen Wirkstoffen modifizieren, die dann direkt am ursprünglichen Ort des Tumors freigesetzt werden sollen«, erklärt Dr. So- fia Dembski, die das Team Biomaterialien am Fraunhofer ISC leitet. Wie das gelingen könnte, beschreibt Carsten Hagemann: »Wir stellen uns vor, dass man die Opera- tionshöhle nach der Tumorresektion mit dem arzneibeladenen Vlies zumindest an den Wänden auskleidet oder sogar ganz ausfüllt. Der Vorteil dieses Materials ist ja, dass es flexibel ist und sich anpassen kann, wenn sich Form oder Volumen der Resek- tionshöhle verändern. Während sich die Kieselgelfasern zersetzen, geben sie kon- stant die Zytostatika ab. Wenn das direkt am Tumorrandgewebe geschähe, könnten sie dort mit maximaler Wirksamkeit ein neuerliches Tumorwachstum hemmen.« Ob sich diese Vision zukünftig reali- sieren lässt, wollen die Forschungsteams von Fraunhofer ISC und Klinikum zunächst an zwei- und dreidimensionalen Zellkul- turen ausloten. Dazu soll bei Operationen entnommenes Tumor gewebe – mit Ein- verständnis der betroffenen Patienten – in Kultur genommen und mit der wirkstoff- beladenen Renacer®-Membran in Kontakt gebracht werden. Das Pilotprojekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 1,6 Millionen Euro geför- dert. »In drei Jahren wollen wir eine wirk- same Methode entwickeln, mit der sich die derzeitigen Therapiemöglichkeiten von Glioblastomen erweitern lassen«, so Hage- mann: »Wir hoffen, dass wir damit die Überlebenszeiten der Betroffenen bei guter Lebensqualität verlängern können.« C S I r e f o h n u a r F : o t o F »Wir wollen unsere Kieselgelfasern mit zwei bereits zur Krebs therapie zugelassenen Wirkstoffen modifi­ zieren, die dann direkt am ursprüng­ lichen Ort des Tumors freigesetzt werden sollen.« Dr. Sofia Dembski, Fraunhofer ISC dem Hirngewebe herausoperiert, dann be- strahlt, mit Chemotherapeutika behandelt und schließlich elektrischen Wechselfel- dern ausgesetzt. »Dennoch schaffen wir es nicht, alle Tumorzellen abzutöten. So entstehen regelmäßig neue Tumorherde, die schließlich zum Tod der Betroffenen führen«, erklärt Prof. Carsten Hagemann, Leiter der Sektion Experimentelle Neuro- chirurgie an der Neurochirurgischen Kli- nik und Poliklinik des Universitätsklini- kums Würzburg. Viele hochwirksame Krebsmedikamente kommen für die Behandlung von Glioblas- tomen nicht infrage, weil sie die Blut-Hirn- Schranke nicht passieren können. Und auch jene Wirkstoffe, die diese Barriere über-

2 | 23 Staffellauf des Wissens, Folge 8 Herr Prof. Mario Trapp, wann werden autonome Fahrzeuge auf deutschen Straßen zum Alltag gehören? Serie: Staffellauf des Wissens Unsere Zeit wirft viele Fragen auf – Fraunhofer-Forschende bemühen sich um Antworten. Eine Fachfrau oder ein Fachmann gibt eine Antwort und stellt eine Frage, die sie oder er an den nächsten Experten weiterreicht – ein »Staffellauf des Wissens«. In dieser Ausgabe antwortet Prof. Mario Trapp, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Kognitive Systeme IKS, auf eine Frage von Prof. Wilhelm Bauer, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeits- wirtschaft und Organisation IAO. 36 36 F ahrerlose Robotaxis gehören wie selbstverständlich zu fast jeder Science-Fiction-Geschichte. Sie stehen nahezu synonym für Fort- schritt und Zukunft. Wenn uns nun Tech-Un- ternehmen versprechen, diese Vision aus der Fiktion in die greifbare Nähe des Machbaren zu rücken, steht ihnen die Bühne des breiten öffentlichen Interesses offen. Und sie nutzen diese Bühne. Sie bieten uns glitzernde Shows und lassen damit in der allgemeinen Wahr- nehmung die traditionellen Autobauer im biederen Schatten der Vergangenheit zurück. Doch so sehr uns dieses aufwendig inszenier- te Narrativ die greifbare Nähe der Zukunft suggerieren mag, führt der Weg zu echten Alltagsprodukten für die Tech-Unternehmen über einen schier unüberwindbar scheinen- den Graben: die Sicherheit und Zuverlässig- keit der Fahrzeuge. Auf der anderen Seite des Grabens finden wir die klassischen Autobauer. Und es waren auch nicht Tech-Unternehmen, sondern ein deutscher Premiumhersteller, der das weltweit erste automatisierte Fahrzeug vorgestellt hat. Das Auto fährt zumindest in bestimmten Si- tuationen automatisiert selbst und übernimmt dafür auch die Verantwortung, während die Fahrerin oder der Fahrer beispielsweise lesen oder E-Mails bearbeiten kann. Auf Anforde-

2 | 23 Höhere Erträge, geringere Verluste Sichere Lebensmittel, jederzeit verfügbar? Die Krisen und die leeren Regale haben gezeigt: Das ist keine Selbstverständlichkeit. Fraunhofer-Forschung arbeitet daran, mehr Resilienz zu erreichen. Von Dr. Janine van Ackeren, Fotografie: Sven Döring 38

2 | 23 W Dr. Axel Wille, Fraunhofer EMFT enn CURT über das Feld rumpelt, erinnert er an einen Tisch, der aus der Küche ent- flohen ist. Der Outdoor-Roboter besteht aus robusten Rädern, mit denen er selbst unwegsames Gelände meistert, und einer Plattform in gut einem Meter Höhe, in der jede Menge Technik ver- baut ist – ein Kamerasystem beispielsweise, das CURT in der Spur hält, wenn er die Furchen links und rechts von den jungen Kartoffelpflanzen entlangrollt, ohne das noch zarte Grün zu zerstören. Oder zumindest nur das, was tatsächlich entsorgt werden soll: Beikraut. Und eines Tages vielleicht auch Schädlinge. Was früher Unkraut hieß, wird aktuell in der konventionellen Landwirtschaft oft mit dem Her- bizid Glyphosat entfernt. Da das Mittel aber keinen Unterschied macht zwischen den einzelnen Wildkräutern, wird alles gleicher- maßen vernichtet. Das mindert die Artenvielfalt und befeuert das In- sektensterben. In den vergangenen 30 Jahren hat die Insekten-Biomas- se um 70 Prozent abgenommen. Doch jetzt kommt CURT. Ent- wickelt wurde der Landwirtschafts- roboter von Kevin Bregler, Grup- penleiter am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA, im Rahmen des Fraunhofer-Leitprojekts COGNAC, an dem sieben Fraunhofer-Institute beteiligt sind. Prototyp CURT fährt inzwischen auf Kartoffelackern vollelektrisch und autonom über Pflanzenreihen. Ausgestattet mit Laser- scanner, Kamera und kleinem GPS-Modul findet er sich allein auf dem Acker zurecht und fräst unerwünschten Bewuchs mit seinem Manipulator so aus dem Boden, dass die wachsenden Kartöffelchen keinen Schaden nehmen. »Das Besondere: CURT entfernt die Beikräuter selektiv. Er kann also beispielsweise Brennnesseln am Rand des Fel- des stehen lassen, während er andere Beikräuter ausrupft«, erläutert Bregler. Die Reste dieser Aktion bleiben anschlie- ßend als Dünger auf dem Feld liegen. Diese Entwicklungen sind erst der Start: Künftig soll CURT in Dauerkulturen wie dem Obstbau eingesetzt werden, auch für Kaffeeplan- tagen gibt es bereits Anfragen aus der Industrie. Immer ausreichend zu essen: Alles eine Frage der Resilienz Erträge erhöhen, Verluste minimieren, selbst in Krisen- zeiten sicher liefern und dabei immer an die Nachhaltig- keit denken: Der Druck auf die Lebensmittelproduktion 40 »Geraten Pflanzen in Stress, sondern sie flüchtige Gase ab.« ist in den letzten Jahren extrem gewachsen. Dass die Versorgung mit Nahrungsmitteln selbst in Deutschland keine Selbstverständlichkeit ist, wurde vielen Angehö- rigen der Generationen X, Y und Z erstmals in der Co- ronapandemie bewusst. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat dieses Gefühl noch einmal verschärft. Fachkräftemangel und Klimawandel mindern die Ver- sorgungssicherheit langfristig. Wie lässt sich die Lebens- mittelproduktion in Deutschland resilienter gestalten? Um Antwortmöglichkeiten auf diese Frage zu entwickeln, hat sich Fraunhofer zu einer starken Allianz Ernährungs- wirtschaft zusammengeschlossen. »Dabei bündeln 13 Fraunhofer-In- stitute ihre Kompetenzen und bie- ten Industriekunden Wissen aus einer Hand«, erläutert Prof. Mark Bücking, der die Geschäftsstelle leitet. Im Alten Land, dem größten zusammenhängenden Obstanbau- gebiet Nordeuropas, kämpfen die landwirtschaftlichen Betriebe be- reits seit Jahren mit den Folgen des Klimawandels, aber auch gegen die Folgen menschlichen Tuns. Durch die Elbvertiefung etwa ist der Grundwasserspiegel gesunken, der Boden versalzt zunehmend. Im Projekt SAMSON arbeiten For- schende des Fraunhofer-Instituts für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung IFAM gemeinsam mit der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Ham- burg, der hochschule 21 und der Technischen Universität Hamburg an Automatisierungssystemen, die das Erfah- rungswissen der Obstbauern und -bäuerinnen ergänzen. Die Bäume dürfen beispielsweise nicht zu viel tragen, sonst fällt die Ernte im nächsten Jahr schwach aus. Beob- achtet der Apfelbauer also 30 Prozent zu viel Blüten, schnei- det er üblicherweise 30 Prozent aus – allerdings auch bei Bäumen, bei denen die Blütenanzahl passend gewesen wäre. Dadurch sinkt der Ertrag. Die Technologen gehen deshalb einen anderen Weg: »Wir erfassen jeden Baum als Individuum«, sagt Benjamin Schulze, Gruppenleiter am Fraunhofer IFAM. »Dazu bekommt jeder einen Digitalen Zwilling.« Während der Landwirt durch die Apfelbaum- reihen fährt und anderen Arbeiten nachgeht, nehmen Ka- meras und Sensoren automatisch Bilder im sichtbaren und infraroten Spektralbereich auf, ermitteln Temperaturen und genaue GPS-Daten. Anhand der Daten leiten Software- lösungen mittels intelligenter Algorithmen Informationen zur optimierten Behandlung der einzelnen Bäume ab – so kann sich der Obstbauer über eine interaktive Nutzerober- fläche alle Bäume anzeigen lassen, die stets weniger ) 1 ( e s a c o t o h p , ) 5 ( o t o h p k c o t s i : j e t k e b O e d n e h e t s i e r F

2 | 23 Ertrag liefern als andere oder individuelle Kultivierungs- maßnahmen je Baum planen. Die Daten, über Künstliche Intelligenz interpretiert, dienen auch Robotern dazu, die Blüten jedes Baumes be- darfsgerecht herauszuschneiden. »Über unser System wollen wir die Ernte sicherstellen und sie konstanter und vorhersagbarer gestalten«, sagt Schulze. Auf einem Pro- jekthof werden die Forschenden künftig einmal monat- lich mit der entwickelten Sensorbox durch die Apfel- baumreihen fahren und Daten aufnehmen und somit einen kleinen, aber hochinnovativen Obstbaubetrieb nachbilden. »Ab Sommer 2023 können Obstbauern und -bäuerinnen unsere Entwicklung dort testen. Schließ- lich liegt der Schwerpunkt des Projekts im Wissenstrans- fer. Genauer gesagt darin, die entwickelten Technologien in die Anwendung zu bringen«, sagt Schulze und fügt hinzu: »Um den Beruf des Obstbauern auch in Deutsch- land langfristig attraktiv zu halten.« Im Januar 2023 frisch gestartet ist das Projekt AGRARSENSE: 52 Partner aus 15 EU-Ländern (darunter auch das Fraunhofer-Institut für Elektronische Mikro- systeme und Festkörper-Technologien EMFT) entwickeln 49 neue Produkte für sieben Anwendungsfälle – unter anderem für die Landwirtschaftsrobotik, die optimale Bodenbewirtschaftung und Düngung sowie das Wasser- management, das bei steigenden Temperaturen seit Jah- ren immer herausfordernder wird. Das Fraunhofer EMFT will das durch die klimatischen Veränderungen immer größer werdende Leiden auf den Feldern messbar machen, um so die benötigte Hilfe prä- zise steuern zu können. »Geraten Pflanzen in Stress, etwa durch Trockenheit, Schädlinge oder Nährstoffmangel, son- dern sie flüchtige Gase ab«, erklärt Dr. Axel Wille, der am Fraunhofer EMFT die technisch-wissenschaftliche Koor- dination des Gesamtprojekts innehat. »Über eine Art elek- tronischer Nase an Robotern wollen wir diese erkennen.« Damit der Roboter diese Gase detektieren kann, müs- sen die allerdings nah genug an den Sensor gelangen. Wil- le und sein Team entwickeln daher Mikropumpen, die die Gase ansaugen. Langfristig soll sich so nicht nur sagen las- »Resilienz muss machbar sein« Wie Ernährung sicherer wird – und genussvoller. Prof. Andrea Büttner, Geschäftsführende Institutsleiterin des Fraunhofer IVV, als wissenschaftliches Mitglied berufen in die Ständige Senatskommission zur gesundheitlichen Bewertung von Lebensmitteln der DFG. Interview: Josef Oskar Seitz Jeder neunte Mensch auf der Welt ist unterernährt oder hungert. An die Betroffenheit haben wir uns gewöhnt, Frau Prof. Büttner. Gibt es neue Lösungsansätze? Die Herausforderung reicht ja noch viel weiter. Ein viel größerer Teil der Men- schen ist fehlernährt – und das massiv gerade auch in den reichen Industriena- tionen: Mineralstoff- und Vitaminman- gel, die Überernährung eskaliert. Machen wir damit das Problem nicht so groß, dass es unlösbar wird? Was uns verloren gegangen ist, ist der Blick für das Wichtige. Darauf wollen wir in der Fraunhofer-Allianz für Er- nährungswirtschaft fokussieren. Wir erleben ein Resilienz- und Souveräni- tätsproblem: in der Energieversorgung, im Gesundheitsbereich – und eben auch in der Lebensmittelversorgung. Was wir vor allem neben der reinen Technologie- sicht brauchen, ist eine Lage- und Szena- riobetrachtung. Und welche Szenarien zur Lösung sehen Sie? Regionalisierung ist ein großes Thema. Wir müssen zudem ganz neue Anbau- formen erschließen: Vertical Farming, Indoor-Farming sind technische Fort- schritte, die uns mit Sicherheit um ein Wesentliches weiterbringen werden, gleichzeitig sind degradierende Böden und Wasser ein globales Problem, das für jede Form bioökonomischer Wert- schöpfung zentral steht. Was sich dabei ganz schnell ändern muss, ist unser Umgang mit den Ressourcen. Wir den- ken gerade in großem Maßstab darüber nach, wie Rest- und Nebenströme ver- wertet, veredelt werden können und hierzulande, aber auch weltweit in den Handel und vor allem zum Verzehr kommen können. Restströme klingt so technisch. Worum geht es konkret? Um vieles. Obst und Gemüse sind heute zahlreichen Normen und Regularien unterworfen. Und was nicht der Norm entspricht, kann aus dem Prozess verlo- ren gehen. Mit Partnern entwickeln wir 42

2 | 23 steigender Lohnkosten und hohen Qualitätsansprüchen der Verbraucher ist bereits beim Setzen der Pflanzen ei- ne zunehmende Automatisierung gefragt. Eine beson- dere Robotik soll es ermöglichen. »Die Pflanzbehälter werden nach dem Stand der Technik von einer Befüll- maschine mit einer definierten Menge an Pflanzsubstrat befüllt. Der Roboter schaufelt Löcher in das Substrat, packt die Erdbeerpflanze mit pneumatisch angesteuer- ten Fingern am Wurzelballen, stellt sie hinein und drückt sie an – ohne die Pflanze dabei zu beschädigen«, sagt Kai Potthoff, Wissenschaftler am Fraunhofer IGP. Das ist durchaus herausfordernd, denn die Pflanzen müssen im gleichen Abstand von- einander, nicht zu tief und nicht zu hoch im Pflanzsubstrat sitzen, um sich optimal zu entwickeln. Auch muss der Roboter in puncto Geschwindigkeit mit der Befüll- anlage mithalten – eine Aufgabe, an der die Mitarbeitenden derzeit arbeiten. Kevin Bregler, Fraunhofer IPA »Das Besondere: CURT entfernt die Beikräuter selektiv.« Spektralbildern können Schadbilder frühzeitig erkannt und Pflanzenschutzmittel gezielt eingesetzt werden. Nichts kommt weg: Digitalisierung gegen Verschwendung Sind die Erdbeeren reif, werden sie von einem taktilen Greifer geerntet: Dieser erkennt am mechanischen Wider- stand der Erdbeere, wie fest er zudrücken darf, um die empfindlichen Früchte nicht zu beschädigen. »Die Elas- tomer-Greifertechnik ist bereits vorhanden, sie wird vom Fraun- hofer Lizenznehmer Hohe Tanne GmbH in den Markt gebracht«, sagt Vierbauch. Die Forschenden wollen diesen Ansatz nun weiter optimieren: Sie entwickeln eine Foliensensorik, die nicht nur den Druck auf die Erdbeere misst, sondern künftig zudem Reifegrad- und chemische Sensorik ermög- licht. Auch auf die hohen Lebens- mittelabfälle – derzeit landen etwa 45 Prozent von Obst und Gemüse zwischen Ernte und Verzehr auf dem Müll – hat das Team eine Ant- wort: Nah-Infrarotsensorik und optische Messtechniken klassifi- zieren die Erdbeeren und sortieren sie bei der Ernte entweder für den direkten Verkauf oder aber, bei nicht so ansehnlichen Früchten, für die Weiterverarbeitung. Lebensmittelverschwendung verringern könnten auch essbare Beschichtungen. »Diese beruhen auf natürlichen Substanzen. Werden die Erdbeeren damit besprüht, sor- gen die Barriere-Eigenschaften der Schicht dafür, dass die Früchte länger halten«, erläutert Vierbauch. Da eine Avocado andere Anforderungen an die essbaren Beschich- tungen hat als eine Erdbeere, passen die Forschenden die Beschichtungen an die Respirationsraten der jeweiligen Frucht an. Auch in anderer Hinsicht arbeitet das Team an bes- serer Lebensmittel-Haltbarkeit: So verarbeitet es nicht- optimale Produkte, etwa Erdbeeren mit optischen Män- geln, ernährungsphysiologisch sinnvoll – sprich ohne den Zusatz von viel Zucker. »Eine Möglichkeit dazu liegt in der Trocknung mit Vakuumexpansion. Dazu trocknen wir die Früchte vor und geben sie zur endgültigen Trock- nung ins Vakuum, wobei die Früchte aufpoppen: Die Vitamine bleiben besser erhalten, die Farbe der Erdbee- ren wird noch intensiver und sie haben – anders als bei über andere Methoden getrockneten Früchte – einen Damit die Erdbeerpflanzen möglichst viel Ertrag liefern, müs- sen sie im nächsten Schritt ge- düngt, bewässert und geschützt werden. »Wir möchten weg von einer Summensensorik über alle Pflanzen in einem Gewächshaus oder auf einem Acker – und messen die entsprechenden Parameter daher lokal und indivi- duell«, sagt Christian Wald, Wissenschaftler am Fraun- hofer EMFT. Das soll eine Datenplattform ermöglichen, die orts- und zeitaufgelöst alles Relevante von Nährstoff- eintrag über Wasserversorgung und Beleuchtung bis hin zu Luftzuständen misst und auswertet. Mit einer großen Anzahl Sensoren im Folientunnel ist noch nichts erreicht. Diese müssen ihre Daten auch auf effiziente Weise an eine Sammelstelle übertragen können. Hier kommt die Funktechnologie mioty® vom Fraunhofer IIS ins Spiel. Bei welchen genauen Umgebungs- bedingungen die Erdbeeren am besten gedeihen, messen die Forschenden, indem sie das Wurzelwachstum der Pflanzen per Röntgentechnologie quantitativ analysie- ren. Langfristig sollen die Daten dabei helfen, Dünger, Wasser und Co. bedarfsgerecht einzustellen – Pflanze für Pflanze. Ein wichtiger Punkt, wenn es um eine effizientere Produktion geht, liegt darin, Pflanzenkrankheiten wie Phytophthora, Mehltau oder auch Raupenfraß frühzeitig zu erkennen. An dieser Stelle werden die Kompetenzen des Fraunhofer IGD wichtig: Durch die Auswertung von 44

2 | 23 Regionaler und rentabler Apfelsaft direkt aus dem Apfel? Das ist auch für Dr. Björn Moller vom Fraunhofer ISI noch nicht möglich. Aber er will Obstbauern zumindest Möglichkeiten erschließen, ihre Produkte mit mehr Wertschöpfung und höherer Haltbarkeit zu vermarkten. 46

2 | 23 Wirkstoff Spilanthol, der unter anderem in der Kosme- tikindustrie eingesetzt wird«, erläutert Schillberg. Ein Fokus liegt auf dem ökonomischen Ansatz: Wie teuer wäre die Produktion der Parakresse über Vertical- Farming-Ansätze? Die höhere Resilienz des Vertical-Far- mings wird nur dann in der Praxis umgesetzt werden und eine Grundversorgung in Krisenzeiten sichern kön- nen, wenn sie sich in einem ähnlichen Kostenniveau be- wegt wie der konventionelle Anbau. Deutlich wird dies beim Berliner Unternehmen Ve- ganz, das Erbsenprotein zu Fleischersatzprodukten ver- arbeitet. In den vergangenen Monaten ist der Preis für die Hülsenfrüchte in die Höhe geschossen. Würde das Unternehmen die Erbsen via Vertical Farming selbst pro- duzieren, könnte es seine Resilienz stark erhöhen. Das Resultat wären nicht nur kürzere Lieferwege – schließlich könnten die Erbsen in einer Halle direkt neben der Pro- duktion angebaut werden –, sondern auch die Unabhän- gigkeit von globalen Lieferketten samt den damit ver- bundenen Preisschwankungen. Mit im Paket enthalten ist auch die Resilienz gegenüber sommerlicher Dürre, Starkregen oder winterlichem Schneetreiben. »Am Ende werden wir ein sehr gutes Verständnis davon haben, wie viele Erbsenpflanzen pro Quadratmeter kultivierbar sind und wie viel das kostet.« Andreas Reimann, Fraunhofer IME Doch ist diese Alternative ökonomisch interessant? Ob und unter welchen Bedingungen dies der Fall ist, un- tersuchen die Forschenden des Fraunhofer IME gemein- sam mit Veganz. Als Anlage für den Anbau soll das vom Fraunhofer IME entwickelte System namens OrbiPlant® dienen: Dabei wachsen die Erbsenpflanzen auf einem 1,20 Meter breiten und 25 Meter langen Förderband, das in mehreren Aufs und Abs mäanderförmig verläuft und sich in regelmäßigen Zeitabständen ein Stückchen vor- wärtsbewegt. Die Wurzeln hängen ins Innere der Hügel, also unterhalb des Förderbands – wo sie mit einem feinen Nährstoffnebel und Sauerstoff aus der Luft gut Wachsen und wundern Die kleine Erbse wächst bei Andreas Reimann vom Fraunhofer IME in der Forschungsanlage über sich hinaus. So gezogen hat sie das Potenzial, Produkte unabhängiger zu machen von Klimaeinflüssen, globalen Lieferketten und Preisschwankungen. 48

2 | 23 versorgt werden, was die Pflanzen besonders schnell wach- sen lässt. Auch der sogenannte gravitrope Effekt sorgt für schnelles Gedeihen: Durch das gewundene Förderband müssen sich die Pflanzen immer wieder neu im Gravita- tionsfeld ausrichten, was Hormone fürs Wachstum frei- setzt. Am vorderen Ende der Schlangenbahn sind lediglich ein paar Blätter ausgebildet, doch am Ende wuchern die Pflanzen in voller Pracht, über und über behängt mit Erbsen- schoten. Bis auf das Pflanzen und Ernten läuft in der For- schungsanlage bereits alles vollautomatisch. Klare Kommunikationsstrukturen und klare Abläufe bei einem Störereignis«, sagt Dr. Marc Mauermann, stellver- tretender Leiter des Institutsteils Verarbeitungstechnik am Fraunhofer IVV. An ausgewählten Wertschöpfungs- ketten untersuchen die Forschenden den Status quo der Resilienz in der Lebensmittel- produktion in Deutschland. Beispiel Ölmühlen: Hier ist es um die Resilienz schlecht be- stellt, denn Pflanzenöle werden in Mitteleuropa in großen Öl- mühlen fast ausschließlich aus Raps oder Sonnenblumen ge- wonnen. Rohstoffdiversität sucht man also vergebens, was die Ölproduktion sehr anfällig macht gegenüber Störungen wie Ernteausfällen. »Die ersten Nahrungsmittel sind bereits hergestellt, Lebensmittel mit Proteinen aus Mikroalgen. Granola aus Weizengras. Und Cracker aus Insektenproteinen.« Prof. Stefan Schillberg, Fraunhofer IME »Während Salate und Kräu- ter schnell hochwachsen, braucht die Erbse etwa zwei Monate für die Kultivierung«, erzählt Andreas Reimann, For- scher am Fraunhofer IME Aa- chen. »Zudem können die Erb- senpflanzen im Freiland recht groß werden – wir müssen das Wachstum über Düngemittel, Licht und andere Faktoren so steuern, dass die Pflanze kleiner und kompakter wächst, aber dennoch viele Erb- sen pro Volumen produziert.« Die Versuche dazu, wie dies am besten gelingen kann, sollen im Laufe dieses Jahres abgeschlossen sein. »Am Ende werden wir ein sehr gutes Verständnis davon haben, wie viele Erbsenpflanzen pro Quadratmeter kultivierbar sind und wie viel das kostet«, prognostiziert er. Mehr vom Guten: Qualität sichert Quantität Die Resilienz einer Wertschöpfungskette ist immer auch eine Qualitätsfrage. Es geht nicht allein darum, dass die Lebensmittel nach einem Störfall im Produktionsbetrieb möglichst schnell wieder vom Band laufen, sondern auch, dass ihre Qualität stimmt und ihr Verzehr für den Ver- braucher sicher ist. Besteht auch nur der leiseste Zweifel daran, dass die Lebensmittel die Sicherheitsanforderun- gen nicht erfüllen, dürfen sie nicht ausgeliefert werden. Und fehlen somit in der Versorgung. Im Innovationsprojekt »Resiliente Systeme für siche- re Lebensmittel«, kurz ReSearchL, detektieren die drei Fraunhofer-Institute IVV und IME sowie das Fraunhofer- Institut für Produktionstechnologie IPT deshalb Schwach- stellen in der Versorgung und entwickeln Lösungsszena- rien. »Gefragt ist ein umfassendes Resilienzmanagement: 50 Die Forschenden haben mit ReSearchL untersucht, welche Strategien in der Prozesskette greifen, damit solche Störun- gen möglichst geringe Auswir- kungen haben. Dafür spielte das Team verschiedene Stör- szenarien für Ölmühlen durch und erarbeitete Hand- lungsempfehlungen für eine resilientere Produktion – in Abhängigkeit von der Dauer des Ausfalls. Fällt die Müh- le beispielsweise nur bis zu 24 Stunden aus, sollte ein- fach die Schälung der Ölsaaten gestoppt werden. Die Saat kann dann ungeschält wieder dem Rohstoff unterge- mischt werden. Zwar hat der Presskuchen dann eine niedrigere Qualität, aber das ist noch in einem akzep- tablen Rahmen. Bei längerfristigen Lieferschwierigkeiten hingegen liegt die Lösung in einem modularen Aufbau der Ölmüh- len. Mit diesem können sie bei Lieferschwierigkeiten von Raps und Sonnenblumenkernen innerhalb weniger Tage auf andere Ölsaaten umschwenken und müssen nicht – wie derzeit üblich – komplett stillstehen. Regionale Lie- ferketten, welche die globalen ergänzen, können auch bei diesem Beispiel die Resilienz die Produktion deutlich steigern. Alternative Proteine: Anders besser essen Zu einer resilienten Versorgung mit Lebensmitteln zählt auch die Sicherstellung ausreichend großer Protein-Men- gen für eine gesunde Ernährung. Fleisch als tierische Proteinquelle ist allerdings alles andere als nachhaltig. Woher könnten ökologisch sinnvollere, resilient erzeug-

2 | 23 Eine kleine Geschichte der Künstlichen Intelligenz 2020 Das Unternehmen OpenAI veröffent- licht das Sprachmodell GPT-3. Auf Basis riesiger Datenmengen und mit enormem Einsatz von Entwicklerres- sourcen, Geld und Rechenkapazität geschaffen, erreicht GPT-3 eine bis dahin unerreichte Leistung. 1956 An der Universität von Dartmouth (USA) kommen die führenden Informationstheoretiker zu einem Workshop zusammen. Das Ziel: intelligente Maschinen zu entwickeln. Der Begriff »Künstliche Intelligenz« fällt zum ersten Mal. 1957 Die KI-Forscher Allen Newell und Herbert A. Simon program- mieren den sogenannten General Problem Solver (GPS). Dabei orientieren sie sich an menschlichem Problemlösever- halten. Der GPS kann einfache Rätselaufgaben lösen. 2016 Googles AlphaGo schlägt den weltbesten Go-Spieler Lee Sedol in vier von fünf Partien – wegen der großen Komplexität des ostasiatischen Spiels eine Sensation. 2011 Die Künstliche Intelligenz Watson von IBM besiegt zwei Champions der beliebten amerikanischen TV-Quizshow »Jeopardy«. Der neue Erfolgs- faktor: Watson entwickelt Strategien, um die in natür- licher Sprache gestellten Aufgaben, die häufig mit Wortspielen durchsetzt sind, sinnvoll zu interpretieren. KI-Kunst geschaffen von Midjourney, einer Art ChatGPT für Bilder. Gefüttert haben wir die KI mit den Begriffen Vertrauens- würdigkeit, europäische Werte und Kultur, KI-Foundation-Modelle, technologische Souveränität, Datenschutz und Vielfalt. 52 1972 Die KI-Forschung baut sogenannte Expertensyste- me. Das bekannteste ist MYCIN, das die Diagnose von Blutinfektionen unterstützt. Bei Vergleichsuntersuchun- gen erweist sich MYCIN als ähnlich leistungsfähig wie medizinische Expertinnen und Experten. KI wird einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. 1986 Der britische Informatiker und Psychologe Geoffrey Hinton trainiert 1986 erstmals ein neuronales Netz mit dem »Backpropagation-Verfah- ren«. Es erlaubt bei Fehlern, nötige Anpassungen zu berechnen und zeigt beeindruckende Leistungen. 1997 Der IBM-Rechner Deep Blue bezwingt den Schachweltmeister Garri Kasparow. Das spektakuläre Event bringt die KI-Forschung weltweit ins Scheinwer- ferlicht. Deep Blue verdankt seinen Sieg jedoch keiner kognitiven Intelligenz, sondern purer Rechenpower – er rechnet alle denkbaren Züge durch.

2 | 23 »Mit einem europäi­ schen Modell können wir uns deutlich von amerikanischen Modellen abheben und uns mit einer qualitativ hoch­ wertigen KI, die ihren Anwendern Sicher­ heit garantiert, einen Wettbewerbsvorteil Die Expertinnen und Experten der LEAM-Studie sind sich einig, dass die Auswirkungen der großen KI-Model- le auf Wirtschaft und Gesellschaft erheblich sein werden. Für sie sind die aktuell populären Sprachmodelle nur der erste Schritt. In den nächsten Jahren werden, so prog- nostizieren sie, noch weitaus leistungsfähigere und auf noch vielfältigeren Daten trainierte Modelle den Markt revolutionieren. Um technologisch unabhängig zu blei- ben und wirtschaftlich wettbewerbsfähig, führe kein Weg an einem eigenen europäischen Modell vorbei. Dabei setzt die LEAM-Initiative auf ein Open-Source-Modell, damit die Wirtschaft problemlos damit experimentieren kann. Doch gibt es überhaupt noch eine Chance, zu den davonpreschenden amerikanischen Tech-Giganten aufzuschließen? Die Entwicklung der Founda- tion-Modelle kostet Milliarden: Man braucht eine 380 Millionen Euro teure Supercomputer-Infra- struktur, schätzen die LEAM-Auto- rinnen und -Autoren, die bisher in Deutschland noch nicht für aus- führliche Experimente mit den Modellen verfügbar ist. Ein Trai- ningslauf eines großen Modells er- fordert zudem etwa so viel Energie, wie 30 Einpersonenhaushalte im Jahr verbrauchen. Benötigt werden außerdem zahlreiche hochspezia- lisierte Entwicklerinnen und Ent- wickler, die mit dieser Art von KI vertraut sind. In den Wettbewerb um das größte Modell solle man daher eher nicht einsteigen und lieber differenziert vorgehen, glaubt Sven Giesselbach, Teamlei- ter Natural Language Understanding am Fraunhofer IAIS. Vor allem in Sachen Qualität könne man punkten: »Wir haben am Fraunhofer IAIS Kriterien und Maßnahmen für die Gestaltung einer vertrauenswürdigen, sicheren KI entwickelt, die sich auch für ein großes europäisches Modell adaptieren ließen.« Eine vertrauenswürdige KI muss sechs grundlegenden Anforderungsbereichen, so- genannten Dimensionen, gerecht werden: Fairness, Zu- verlässigkeit, Autonomie und Kontrolle, Transparenz, Sicherheit, Datenschutz. Wie das umgesetzt und kontrol- liert werden kann, darüber gibt der »KI-Prüfkatalog« des Fraunhofer IAIS Auskunft – ein strukturierter, konkreter Leitfaden für Entwicklerinnen und Entwickler, der kon- tinuierlich von Dr. Maximilian Poretschkin, Leiter KI- Absicherung und -Zertifizierung, und seinem Team fort- entwickelt wird. darf niemanden wegen seiner Hautfarbe, seines Ge- schlechts, seiner Herkunft, seiner Religionszugehörigkeit etc. diskriminieren. Doch die Trainingsdatensätze be- inhalten, häufig auch versteckt, gesellschaftliche Vor- urteile, die die KI lernt. »Schon wenn eine bestimmte Minderheit in einem Datensatz unterrepräsentiert ist, kann das Diskriminierung zur Folge haben. Dann habe ich weniger Beispieldaten für das Training und die KI funktioniert gegebenenfalls für diese Minderheit weniger gut«, erklärt Poretschkin. Bei der Auswahl der Daten müs- se daher sehr sorgfältig vorgegangen werden. Manchmal müssen Daten gezielt entfernt oder hinzufügt werden, um sicherzustellen, dass eine Min- derheit angemessen repräsentiert ist. Der Datensatz muss also unter Umständen gegenüber der Realität vorsichtig verzerrt werden, um das Modell insgesamt zu verbessern. Von zentraler Bedeutung für die Vertrauenswürdigkeit der KI ist zu- dem ihre Zuverlässigkeit, die durch systematisches Testen sichergestellt werden soll. Eine Herausforderung: KI lässt sich nicht wie herkömm- liche Software in Module zerlegen, die einzeln überprüft werden kön- nen. »Man muss immer die Gesamt- funktionalität testen, was technisch anspruchsvoll ist«, gibt Poretschkin zu bedenken. Das gilt auch für ein weiteres Qualitätskriterium ver- trauenswürdiger KI: Autonomie und Kontrolle. Eingriffsmöglich- keiten oder eine permanente Über- wachung der Anwendung sollen sicherstellen, dass der Mensch im- mer Herr des Verfahrens bleibt. Auch Transparenz schafft Vertrauen. In dieser Di- mension versuchen die Forscherinnen und Forscher, die Entscheidungsprozesse innerhalb der KI offenzulegen. Trotz der Komplexität gibt es Methoden, Erklärungen zu bekommen. Poretschkin: »Es ist schwierig nachzuvoll- ziehen. Aber: Es ist keinesfalls zufällig, wie große neuro- nale Netze einen Ausgabetext erzeugen.« Methoden zur Absicherung greifen ineinander Die Dimension Sicherheit zielt vor allem auf Risiken durch Fehlfunktionen, Manipulationen, externe Angriffe oder Unfälle. Um solche Gefahren zu minimieren, sieht der Leitfaden des Fraunhofer IAIS unter anderem Schutz- maßnahmen gegen Schadprogramme und umfangreiche Tests vor, die bewusst einen Ausfall der KI-Anwendung provozieren. Von besonders großer Bedeutung für die Vertrauenswürdigkeit von KI-Systemen ist zudem der verschaffen.« Dr. Gerhard Paaß, Fraunhofer IAIS Bereits die erste Dimension, die Fairness, ist in der Umsetzung anspruchsvoll: Eine vertrauenswürdige KI 54

2 | 23 Ein Kollege für schwierige Zeiten Die Corona-Pandemie hat Spuren hinterlassen, besonders in Gastronomie und Hotellerie herrscht Fachkräftemangel. Wie Roboter unterstützen und das Hotel der Zukunft aussehen könnte, beschäftigt das Fraunhofer IGCV und das Fraunhofer IAO. Von Yvonne Weiß L angsam nähert sich Felix vom anderen Ende des Ganges, begleitet wird er von einem leisen Surren und Ruckeln. Drei Etagen des Ansbacher Hotels »Das Hür- ner« mit seinen 97 Zimmern hat er heute bereits ge- reinigt, in nicht einmal einer Stunde. »Felix ist aus dem Team nicht mehr wegzudenken. Den geben wir nicht mehr her«, schwärmt Ljiljana Sladojevic, Mit- arbeiterin im Hotel Hürner. Seit knapp sieben Mo- naten säubert der Roboter täglich auf fünf Etagen die Teppichböden. Und die menschlichen Kollegen freuen sich: weniger Zeitdruck, weniger Belastung, weniger Stress. Den ersten Schritt zu einer Automatisierung machte Geschäftsführer Jens Blank gemeinsam mit Shuang Lu und Klaus Fink vom Fraunhofer-Institut für Gie- ßerei-, Composite- und Verarbeitungstechnik IGCV über das Mittelstand-Digitalzentrum Augsburg. Auslöser war die Pandemie und der damit einher- gehende Fachkräftemangel, der auch Blank hart ge- troffen hat. »Damals hab ich mir gedacht, ich muss jetzt dringend was unternehmen«, erinnert sich der Hotelier. Gemeinsam mit Lu, wissenschaftliche Mitarbei- terin im Bereich Prozessführung und Robotik am Fraunhofer IGCV, und Fink, wissenschaftlicher Mit- arbeiter der Abteilung flexible Produktionsautoma- tisierung, sowie der Firma Kenter GmbH startete Blank 56 Noch immer fehlt in Gastronomie und Hotellerie Personal.

2 | 23 Dresden macht Druck: Auch die Frauenkirche, Symbol der Elbstadt, wurde bereits im Fraunhofer IWS 3D-generiert. 58

2 | 23 Produktion hingegen liegt erst der Werk- stoff vor und dann wird das Bauteil daraus gefräst. Zugleich ermögliche der 3D-Druck neue Freiheitsgrade im Aufbau und Design – etwa filigrane Gitterstrukturen. Das er- fordere ein neues Denken bei Konstruk- teuren. »Die additive Fertigung löst be- stehende Grenzen nicht auf, erweitert sie aber deutlich«, formuliert es Leyens. Die Corona-Pandemie hat der Techno- logie einen Image-Schub verschafft, da so anfangs dringend benötigte Gesichtsmas- ken und Beatmungstechnik schnell und vor Ort hergestellt werden konnten. Die Brüchigkeit der Logistik infolge der Pan- demie und auch des Krieges in der Ukrai- ne könnte sich ebenfalls als Katalysator herausstellen: Warum nicht mittels addi- tiver Fertigung die benötigten Teile vor Ort und entsprechend der Nachfrage drucken und so nicht nur das Lieferkettenproblem umgehen, sondern außerdem die Abhän- gigkeit von asiatischen Zulieferern verrin- gern sowie klimabelastende Transporte und Lagerkapazitäten einsparen? Die neue industrielle Hinwendung zum 3D-Druck wird erleichtert durch technologische Wei- terentwicklungen, die auch von Fraun- hofer-Forschenden vorangetrieben werden. Sie haben das Potenzial, die additive Fer- tigung zu einem Game Changer zu machen. Erfolgsfaktor Zeit: Schneller ans Ziel Da ist zum einen die Frage der Produk- tionsgeschwindigkeit: Ein hohes Ferti- gungstempo senkt die Stückkosten und macht einen Technologie-Wechsel wirt- schaftlich attraktiv. Mit einem High- speed-3D-Drucker für Hochleistungs- kunststoffe liefert das Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umform- technik IWU hier einen Lösungsansatz: Bei der SEAM-Technologie wird eine Kunststoff-Spritzeinheit mit dem 3D-Dru- cker verknüpft und die Anlage mit einem beweglichen Tisch versehen, der sich ra- send schnell unter der Kunststoff-Spritz- düse hin und her bewegen kann. »Wir können damit pro Sekunde einen Materi- alstrang von einem Meter Länge fertigen«, erklärt Entwickler Christopher Schlegel, Projektleiter Forschung & Entwicklung beim Fraunhofer IWU. Insgesamt verkür- ze sich mit SEAM die Produktionszeit um bis zu 70 Prozent im Vergleich zu konven- tionellen Anlagen. Einen anderen Ansatz zur Zeiterspar- nis verfolgt das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA: In dem Forschungsprojekt »Elektro- nische Funktionsintegration in additiv ge- fertigte Bauteile« arbeitet das Team um Patrick Springer, Gruppenleiter F&E Ad- ditive Fertigung, zusammen mit dem An- lagenhersteller Arburg und dem Sensor- hersteller Balluff daran, Sensoren in individualisierter Bauform zu drucken. Das erste in diesem Projekt entwickelte Gerät ist ein Näherungssensor, der beispielswei- se unter Fließbänder montiert wird und Objekte erkennt, die auf dem Band liegen. Bislang sind diese Sensoren in Metallzy- lindern untergebracht, in die das elektro- nische Innenleben – eine Platine, eine Ma- gnetspule und ein Stecker – eingebaut werden. »Uns ist es erstmals gelungen, mit dem Druckprozess alles in ein flaches Kunststoffgehäuse einzuarbeiten«, sagt Patrick Springer. Für das Stuttgarter Team bestand die Herausforderung darin, neben dem Material für das Gehäuse gezielt elek- trische Leiterbahnen mit einzudrucken, über die elektrischen Komponenten kon- taktiert werden. Zunächst setzten die Ex- perten eine Silberpaste ein; aktuell wird Im Technikum des AMCD sind die Geräte für die gängigsten additiven Fertigungs- varianten vorhanden. S W I r e f o h n u a r F / k c a n s l i W h p o t s i r h C : o t o F 60

2 | 23 Festigkeit von mit Glasfaser oder Carbon- faser verstärkten Kunststoffen. Dr. Arne Schirp, Experte für Holzwerkstoff- und Natur faser-Technologien am Fraunhofer- Institut für Holzforschung, Wilhelm-Klau- ditz-Institut WKI, forscht an biobasierten Kunststofffilamenten – Kunststofffäden, die in 3D-Druckern aufgeschmolzen und zu einem Bauteil verklebt werden –, die es mit den klassischen Werkstoffen aufneh- men können. So umhüllt Schirp beispiels- weise aus Pflanzen hergestellte Fasern mit Bio-Polymeren zu knapp drei Millimeter dicken Filamenten. Diese könnten mit ei- nem großen 3D-Drucker zu Komponenten für die Baubranche verarbeitet werden. Denkbar sind individuell gefertigte Trenn- wände für Großraumbüros oder Träger für Deckenkonstruktionen. »Mit dem 3D-Dru- cker können wir diese so gestalten, dass die besonders belasteten Bereiche stärker und die übrigen schwächer ausgelegt wer- den«, erläutert Arne Schirp. Das spare Ma- terial. Und: Solche leichten Träger aus nach- wachsenden Rohstoffen könnten künftig zu einem Teil Beton ersetzen – den weltweit wichtigsten, aber auch extrem klimaschäd- lichen Baustoff. Am Fraunhofer-Institut für Produk- tionsanlagen und Konstruktionstechnik IPK forscht Biotechnologe Linus Aulich im Rahmen des Projekts BioFusion 4.0 daran, wie sich das Biopolymer Polyhydroxybut- tersäure (BHP) mittels geeigneter Additive fit machen lässt für den 3D-Druck. Aulichs wichtigster Mitarbeiter in dieser Mission ist das Bakterium Ralstonia eutropha, das in der Lage ist, auf Fetten zu wachsen und dabei PHB zu produzieren: »Wir nutzen beispielsweise Fette aus Schlachtabfällen oder auch altes Frittenfett«, erzählt Aulich. PHB hat aber nicht nur den Vorteil, dass es aus Abfallprodukten produziert werden kann, sondern auch, dass es – abhängig von Faktoren wie Temperatur oder Feuch- tigkeit – binnen eines Jahres biologisch abbaubar ist. Die leichte Kompostierbar- keit macht es interessant für die ökologi- sche Herstellung von Einwegprodukten wie Verpackungen, Einweggeschirr oder auch Mulchfolie für die Landwirtschaft. Aulich sieht in der Kombination aus dem Werkstoff PHB und dem 3D-Druck als Ver- fahren auch eine Lösung für Produkte in der Medizintechnik, etwa für Orthesen, die zwar individuell angepasst werden müssen, aber auch relativ schnell wieder entsorgt werden. »PHB ist zudem nicht to- xisch und wird vom Körper problemlos resorbiert, sodass wir auch über additiv gefertigte Wirkstoffträgerkapseln aus dem Material nachdenken.« Die USA haben das Potenzial der ad- ditiven Verfahren für die industrielle Se- rienfertigung früh erkannt und sich eine Vorreiterstellung verschafft. Auch China und Japan sind längst wichtige Wettbe- werber. Für Prof. Leyens spielt Deutsch- land im internationalen Vergleich in der ersten Liga, besonders hinsichtlich der Anlagentechnik und der Applikationen. Deutschland sieht Fraunhofer IWS-Leiter Christoph Leyens im internationalen Ver- gleich derzeit als »Fast Follower«: »Hin- sichtlich Anlagentechnik und Applika- tionen spielen wir zumindest im vorderen Feld mit.« Durch AGENT 3D, dem DRES- DEN-concept als wirkungsvoller regio- naler Forschungsallianz und der deutsch- polnischen Kooperation ATeM (siehe Kasten) habe sich gerade Dresden zum Innovationstreiber entwickelt. Nun aber sei die Industrie in der Pflicht, die ge- wonnenen technologischen Errungen- schaften in Produktion und Produkte umzusetzen. »Jetzt beginnt der evolutio- näre Teil der Revolution«, beschreibt es Leyens: »Erkenntnisse aus der Forschung müssen in der Wirtschaft implementiert werden, damit der Schwung nicht wieder verloren geht.« Und damit Deutschland sich in der ersten Liga an die Tabellen- spitze arbeitet. »Erkenntnisse aus der Forschung müssen in der Wirtschaft imple­ mentiert werden, damit der Schwung nicht wieder verloren geht.« Prof. Christoph Leyens Aus Titan gedruckt: Auch die optische Bank für Weltraum- teleskope wurde in Dresden additiv hergestellt. S W I r e f o h n u a r F / e b r a G c a m A , S W I r e f o h n u a r F / k c a n s l i W h p o t s i r h C : s o t o F 62

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2 | 23 Grün im doppelten Sinn: Die PV-Module am Fraunhofer ISE produzieren Solarenergie – und sehen dank Morpho- Color®-Be- schichtung auch noch gut aus dabei. A uf den ersten Blick könnte das dreige- schossige Haus nahe Holzkirchen und in Hörweite der A8 auch ein Bürogebäude sein. Dann fallen die unterschiedlichen Fassadenelemente an dem Gebäude ins Auge: hier bodentiefe Verglasung, da Außenrollo, dort eine in- nen angebrachte Sonnenblende. Im dritten Stock ist außen an der Fassade zwischen zwei Fenstern ein schwarzes Photovoltaik-Modul befestigt. Wäre das nicht einheitlicher gegangen? Die scheinbare Unentschiedenheit bei der Außen- gestaltung hat System. Das Mini-Hochhaus ist kein gewöhnliches Gebäude, sondern die Versuchseinrich- tung für energetische und raumklimatische Unter- suchungen – kurz VERU – des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik IBP in der oberbayerischen Gemeinde Valley. Und die Wandelbarkeit der Gebäudehülle ist eine der wichtigsten Besonderheiten von VERU: Die einzelnen Segmente zwischen der Stahlbetonkon- struktion lassen sich zu Versuchszwecken schnell und einfach austauschen gegen neue Fassadenlösungen, deren Funktion und Effizienz dann im Auftrag der Forschung oder Industrie geprüft werden. Fassade mit Wirkung – nach innen wie nach außen Herr des Testhauses ist Herbert Sinnesbichler, Grup- penleiter Evaluierung und Demonstration am Fraun- hofer IBP. Als Diplomand zum Fraunhofer IBP gekom- men, führt der Technische Physiker seit nunmehr fast 20 Jahren mit einem interdisziplinär besetzten Team Versuche an Sonnenschutz- und Gebäudehüllensys- temen an der VERU durch. Für Sinnesbichler ist die Fassade weit mehr als eine gestalterische Hülle: »Sie ist die Schnittstelle eines Gebäudes zur Außenwelt und damit von großer Bedeutung sowohl für den Energiebedarf der Immobilie als auch für das Wohl- fühlklima innerhalb der Räume.« Wer die Fassade auf ihre ästhetische Funktion reduziere, versichert der Fachmann, unterschätze ihr bauphysikalisches und energetisches Potenzial. »Die Fassade ist die Schnittstelle eines Gebäudes zur Außenwelt und damit von großer Bedeu­ tung sowohl für den Energie­ bedarf der Immobilie als auch für das Wohlfühlklima innerhalb der Räume.« Herbert Sinnesbichler, Fraunhofer IBP 66

2 | 23 Zieht‘s irgend- wo? Beim Test der EE-Modul- fassade macht Herbert Sinnesbichler vom Fraunhofer IBP mit der Nebelmaschine auch Luftströme sichtbar. 68 Hier könnte ein PV-Element Abhilfe schaffen, das der- zeit noch die Südfront des VERU vom Fraunhofer IBP ziert. Es ist Teil eines Fassadenmoduls zur Gebäude- klimatisierung und wurde vom Fraunhofer IBP und dem Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik IEE in Kooperation mit Part- nern aus der Wirtschaft entwickelt. Über das Photo- voltaik-Element wird ausreichend regenerative Ener- gie erzeugt, um den dahinter liegenden Büroraum nicht nur zu lüften, sondern dank einer Kleinstwär- mepumpe auch zu heizen oder wahlweise zu kühlen. Eine Alles-inklusive-Lösung also: Die gesamte Heiz-, Kühl- und Lüftungstechnik für den dahinter liegen- den Büroraum ist in diesem Fassadenmodul integriert. Benötigt wird lediglich ein Stromanschluss für die Zeiten, in denen die Solarenergie mal nicht ausreicht, um die Komponenten vollständig mit Strom zu ver- sorgen. Da alle wichtigen Bauteile bereits im Modul stecken, lassen sich gerade Bestandsimmobilien damit schnell und kostengünstig energetisch sanieren, sind die Forscherinnen und Forscher überzeugt. Aber funktioniert die sogenannte Erneuerbare- Energien(EE)-Modulfassade auch so wie gedacht? Fraunhofer IBP-Wissenschaftler Michael Eberl hat die Fassade des VERU-Versuchsraums mit einem Demons- trator und den Raum selbst mit jeder Menge Mess- technik ausgestattet, um die Funktionalität des Anlagenkonzeptes zu überprüfen sowie die Energie- ströme und Wohlfühl-Parameter wie Lufttemperatur, Luftfeuchte und Luftgeschwindigkeit zu erfassen. Zwei schwarze Metallröhren in der Zimmermitte in Kom- bination mit Befeuchtern bilden die Wärme- und Feuch- teeinträge von Büromenschen ab, die eines Tages hin- ter einer solchen EE-Modulfassade arbeiten werden. Auf diese Art werden über das sogenannte funktio- nale Mockup das Modul selbst sowie das Zusammen- spiel aller Komponenten im Raum getestet und opti- miert. Ohne den Testergebnissen vorweggreifen zu wollen: Michael Eberl ist bislang ziemlich zufrieden. In der Regel laufen solche Versuchsanordnungen mindestens ein Dreivierteljahr, um möglichst alle jah- reszeitlichen Veränderungen mitzunehmen. Der VE- RU-Standort in Valley sei dafür optimal wegen seiner extremen Wetterverhältnisse, betont Sinnesbichler: Ob Sonne, Wind, Regen, Frost und Schnee – alles kommt in der Voralpenlandschaft im Laufe eines Jahres aus- reichend vor. Jetzt, im Vorfrühling, hüllen Schnee und Nebel die VERU noch in winterliches Weißgrau, es ist bitterkalt vor dem Versuchsgebäude und auch im Trep- penhaus. Im Testraum des Demonstrators selbst hin- gegen ist es mollig warm – ein weiteres gutes Zeichen. Bei Großbauprojekten fließen rund 15 bis 25 Pro- zent der Baukosten in die Fassadengestaltung. Gera- de angesichts dieser Größenordnung ist die Vorab-

2 | 23 Stimme aus der Wirtschaft Klemens Haselsteiner, 42, seit Jahresbeginn CEO der STRABAG SE mit einem Umsatz von mehr als 16 Milliarden Euro im Jahr 2021. 70 Wir brauchen die Bauwende. Jetzt! Der Bausektor steht für rund 38 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Entsprechend groß ist die Verantwortung für die gesamte Branche, Wertschöpfungsketten nachhaltiger zu gestalten. Es ist deshalb höchste Zeit, Bauen nicht nur »neu zu denken«, sondern auch »neu zu machen«! Ein Standpunkt von Klemens Haselsteiner, CEO der STRABAG SE

2 | 23 Die Sensoren lassen sich wie eine zweite Haut über das Flugzeug spannen und sammeln während des Flugs wichtige Daten. 72

2 | 23 Kleine Pumpen ganz groß: Dank Agnes Bußmann könnten Mikropumpen schon bald das Leben von vielen Patientinnen und Patienten erleichtern und für neue Innovationen in der Medizin sorgen. 1. Preis: Dr. Agnes Bußmann Pump it up: Mikropumpen für die Medizin nutzbar machen Mit fünf mal fünf Millimetern sind sie kleiner als ein Fingernagel. Doch in der Medizin können sie Großes bewirken: Langzeit- dosierungen von Krebs- und Schmerz-Medikamenten oder die Insulingabe bei Diabetes ließen sich mit Mikropumpen wesentlich erleichtern, Bioprinting oder Organ-on-a-Chip-Anwendungen vereinfachen. Warum sind sie nicht längst im Einsatz? Von Mandy Bartel 74 D r. Agnes Bußmann ist Maschi- nenbauerin. Doch ihr Interesse gilt schon lange auch der Medi- zintechnik. In ihrer Promotion konnte sie am Fraunhofer-Institut für Elektronische Mikrosysteme und Festkör- pertechnologien EMFT in München beides verbinden. Ihr Forschungsgegenstand: pie- zoelektrische Mikropumpen. »Das medizi- nische Potenzial dieser Mikropumpen ist offensichtlich: Sie sind klein, energieeffi- zient, präzise und flexibel adaptierbar, sie lassen sich implantieren oder leicht auf die Haut aufbringen und könnten so bei Pati- entinnen und Patienten für mehr Lebens- qualität sorgen«, fasst die junge Forscherin zusammen. So weit, so gut: »Trotzdem ist die Mikropumpe am medizintechnischen Markt bisher nicht etabliert.« Den Gründen dafür ging Agnes Buß- mann nach. Nach umfassender Recherche fand sie zwei wesentliche Hürden für die

2 | 23 2. Preis: Dr. Chiara Lindner Besser messen mit Quantenlicht Die Zusammensetzung von Gasen, Chemikalien oder Kunststoffen lässt sich mithilfe sogenannter Fourier-Transform-Infrarotspektrometer analysieren. Erstmals konnte das etablierte Verfahren nun mit Messprinzipien der Quantensensorik kombiniert werden – was gänzlich neue Anwendungen ermöglicht. I m Optiklabor ist sie in ihrem Element: Für Dr. Chiara Lind- ner wird hier die abstrakte Quantenwelt konkret greif- bar. Dabei konnte die Wissenschaftlerin der Quantenphysik zunächst nicht viel abgewinnen: »Im Studium erschien sie mir oft zu theoretisch, eher etwas sperrig«, erinnert sie sich. Dass sie ausgerechnet in dieser Disziplin promovieren würde, hätte sie bis zu ihrer Arbeit am Fraunhofer-In- stitut für Physikalische Messtechnik IPM in Freiburg nicht gedacht: Dort forscht sie daran, wie sich Quanteneffekte nutzen lassen, um etablierte Messtechnik wesent- lich zu verbessern. Fourier-Transform-Infrarotspektro- meter sind seit Jahrzehnten aus kaum ei- nem analytischen Labor wegzudenken. Anhand der charakteristischen Transmis- sionsspektren können sie unterschiedliche Moleküle detektieren. In der Umweltana- lytik, Pharmazeutik oder bei Materialprü- fungen lässt dies Rückschlüsse auf die Zu- sammensetzung von Stoffen zu. Das Problem: Bisher sind dafür langsame und teure Infrarotdetektoren nötig. In ihrer Dissertation fand Chiara Lindner einen Weg, solche Messungen zu verbessern – in Qualität, Aufwand und Geschwindigkeit. Quantentrick macht Unsichtbares sichtbar Um die Infrarotdetektoren und damit de- ren Limitierungen zu umgehen, setzt die Forscherin auf einen Quantenkniff: Sie nutzt quantenmechanisch verschränk- 76 »Innerhalb von vier Jahren sind wir von der absoluten Grundlagen­ forschung sehr nah an die Anwendung gekommen.« Dr. Chiara Lindner te Paare aus infraroten und sichtbaren Lichtteilchen, um die spektralen Infor- mationen der Probe zu messen. Dabei dient das eine Photon quasi als Sehhilfe für das andere: Während nur das infrarote Lichtteilchen die Probe »sieht«, wird das sichtbare Partner-Photon mit einem hoch- empfindlichen Siliziumdetektor erfasst. Weil die verschränkten Quanten aber eng miteinander verbunden sind, beeinflusst das Schicksal der infraroten Photonen auch das Verhalten der sichtbaren. Das heißt: Werden die Infrarot-Lichtteilchen von der Probe absorbiert, so ändert auch das Signal der sichtbaren Photonen seine charakteristische Form. Die Eigenschaf- ten der Probe im Infraroten lassen sich also messen, ohne die infraroten Photo- nen überhaupt zu detektieren! So können die bisherigen Infrarotdetektoren durch schnellere, günstigere und rauschärmere Siliziumdetektoren ersetzt werden. Ihren Heureka-Moment hatte die Phy- sikerin sehr früh nach Beginn ihrer Pro- motionsarbeit, als sie zum ersten Mal mit dem bloßen Auge beobachten konnte, wie die verschränkten Photonenpaare erzeugt werden: Beleuchtet man einen speziellen Kristall mit einem grünen Laserstrahl, wer- den die verschränkten Photonen als schwach leuchtender roter Kreis auf einem Schirm sichtbar. Einige Monate später konnte sie damit bereits die ersten Transmissionsspek- tren demonstrieren und später sogar welt- weit erstmals die feine spektrale Struktur der Rotationslinien einer gasförmigen Pro- be mit den »undetektierten Photonen« ab- bilden. Das neue Verfahren ist besonders

2 | 23 3. Preis: Dr. Robert Klas Großforschungsanlage auf einem optischen Tisch Extrem ultraviolette Lichtstrahlung hat viele Vorteile, ist aber nur sehr aufwendig zu erzeugen. Dass man dafür vielleicht in Zukunft keine riesigen, teuren Forschungsanlagen mehr braucht, ist ein Verdienst von Dr. Robert Klas und seiner Arbeit in einem kurzwelligen Forschungsgebiet. Was sonst riesige Gebäude benötigt, bringt Dr. Robert Klas auf einem optischen Tisch unter. In seiner Promotion entwi- ckelte er die bislang leistungsstärkste laserähnliche EUV-Quelle im Labormaßstab. 78

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2 | 23 Grüner Strom aus dem Tank Um den Anteil erneuerbarer Energien an der Stromversorgung auszubauen, sind Energiespeicher von zentraler Bedeutung. Redox- Flow-Batterien bieten große Speicherkapazitäten bei niedrigen Kosten. Dennoch ist ihr Marktanteil bislang überschaubar. Das könnte sich bald ändern. Von Michael Krapp D ie weltweit größte Redox- Flow-Batterie ist im Januar im Nordosten Chinas in der Hafenstadt Dalian in Betrieb gegangen. Sie hat eine Leistung von 100 Megawatt und kann 400 Megawattstun- den Energie aus einem großen Windpark speichern. Bei einem durchschnittlichen Jahresstromverbrauch von 4000 Kilowatt- stunden ließen sich mit der Batterie 100 Haushalte für ein Jahr mit Strom versor- gen. Doch meistens kommt die Techno- logie zum Einsatz, um das Stromnetz für mehrere Stunden zu stabilisieren. Auch in Deutschland und Europa werden neue Batteriesysteme akut in der Energiekrise und dauerhaft zur Energiewende drin- gend benötigt. Redox-Flow-Batterien vereinen zahl- reiche Vorteile. Dazu gehören die leichte Skalierbarkeit, der Wirkungsgrad von mehr als 75 Prozent, eine äußerst geringe Selbst- entladung durch die Aufbewahrung der Eletrolyten in zwei getrennten Tanks sowie deren Recyclingfähigkeit und lange Le- bensdauer. Aufgrund ihrer wässrigen Elek- trolytflüssigkeiten sind sie außerdem nicht brennbar. »Stationäre Energiespeicher mit Lithium-Ionen-Technik sind im wahrsten Sinne des Wortes brandgefährlich«, sagt Chemieingenieur Noack vom Fraunhofer- Institut für Chemische Technologie ICT in Pfinztal bei Karlsruhe. Trotz ihrer vielen Pluspunkte ist der Marktanteil von Flussbatterien bislang überschaubar. Der Grund dafür lag in den hohen Kosten chemischer Batteriesysteme. Die Levelized Costs of Storage (LCOS) sind für den Chemieingenieur Noack maß- geblich für die Investitionsentscheidung von Firmen in eine Flussbatterie. Unter LCOS versteht man die durchschnittlichen Kosten der entladenen Elektrizität unter Berücksichtigung aller Aufwände, die für die Installation sowie den Betrieb des Ener- giespeichersystems während seiner Le- bensdauer anfallen. Hinsichtlich der LCOS sind Flussbatterien gegenüber ihren Kon- kurrenten, den Lithium-Ionen-Batterien, bei großen stationären Energiespeichern inzwischen im Vorteil. Die auf flüssigen Elektrolyten basierenden Batteriesysteme haben bei ordnungsgemäßer Wartung ei- ne Lebensdauer von bis zu 20 Jahren, las- sen sich bis in den Gigawattstundenbereich skalieren und sind sehr sicher im Betrieb. Dagegen sind Lithium-Ionen-Batteriespei- cher auf rund 3000 Ladezyklen begrenzt und bieten Kapazitäten nur im Megawatt- stundenbereich. Hinzu kommt die pro- blematische Beschaffung von Rohstoffen für die Batterien. Für Flussbatterien schien Vanadium bislang der ideale Rohstoff zu sein. Doch die Hersteller von Vanadium-Redox-Flow- Batterien haben mit Preisschwankungen 82 T C I r e f o h n u a r F : o t o F

2 | 23 ÖSTERREICH Verurteilt vom Avatar Gerichtsverhandlungen per Videokon- ferenz sind in großflächigen Staaten wie Australien oder Kanada, wo On- line-Termine lange Anreisen überflüs- sig machen, längst normal. Auch in Europa sollen sie bald zum Alltag ge- hören. Zum Wegbereiter könnte eine neue Software werden, an der Forsche- rinnen und Forscher von Fraun hofer Austria arbeiten. Kernelement der Ent- wicklung ist die Übertragung von Au- genbewegung und Mimik der Nutze- rinnen und Nutzer auf ihre Stellvertre- ter-Avatare im virtuellen Gerichtssaal. Die Datenerfassung erfolgt über eine Webcam, sodass keine technische VR- Ausrüstung wie Brillen oder Gesichts- masken notwendig ist. Sobald das Sys- tem die Blickrichtung des Nutzers am Bildschirm erfasst, wird sie in eine Kopfbewegung des Avatars umgesetzt und so ein Blickkontakt simuliert. Eben- falls übertragen werden Gesichtsaus- druck und Mundbewegungen. Die Syn- chronisation der Tracking-Daten wird derzeit programmiert. Kombiniert wird die Erkennungssoftware mit den Rol- lenspezifikationen der Avatare, die in enger Zusammenarbeit mit internatio- nalen Juristinnen und Juristen entwi- ckelt werden. Der Prototyp des Virtual- Court-Settings, der sich an länderspezi- fische Anforderungen anpassen lässt, wurde bereits erfolgreich getestet. Der Hammer soll bald auch im virtuellen Gerichtssaal fallen. 84 Fraunhofer international Frankreich Portugal Europa Österreich Brasilien Standorte der Fraunhofer-Gesellschaft Vogelgezwitscher ordnet das Monito- ring-System sicher der entsprechenden Art zu. EUROPA Artenvielfalt auf dem Acker Die biologische Vielfalt auf landwirt- schaftlichen Nutzflächen zu erhalten, ist das Ziel des EU-Projekts BioMonitor- 4CAP, an dem Partnerorganisationen aus zehn europäischen Ländern und Peru beteiligt sind. Mit einem neuen Ansatz des Biodiversitätsmonitorings, der klassische Indikatorensysteme mit akustischen, optischen oder molekula- ren Methoden kombiniert, sollen Ver- änderungen der Artenvielfalt erstmals über einen längeren Zeitraum sichtbar gemacht und Maßnahmen für eine nachhaltige Agrarbewirtschaftung entwickelt werden. Das Fraunhofer- Institut für Digitale Medientechnolo- gie IDMT ist in dem Projekt für das akustische Monitoring von Vögeln, Fle- dermäusen und Grillen verantwortlich. In den Feldstudien setzen die Forsche- rinnen und Forscher intelligente Hoch- frequenz-Sensorsysteme ein. Damit werden auch Tierlaute im Ultraschall- bereich erfasst, wie sie beispielsweise von Fledermäusen und Insekten aus- gesandt werden. Mithilfe von Künst- licher Intelligenz werden die Schall- signale automatisch ausgewertet und so die verschiedenen Tierarten sicher identifiziert. Die von den Sensorkno- ten weitergeleiteten Metainforma- tionen ermöglichen eine umfassende örtliche, zeitliche und statistische Modellierung der Daten.

2 | 23 Wie die Industrie von Ameisen lernen kann Die Produktion der Zukunft soll sich nach dem Vorbild der Natur als ganzheitlich vernetztes System organisieren. Grundlage ist eine bioinspirierte Software. Von Andrea Kaufmann B äume kommunizieren untereinander, Amei- sen unterhalten enge Beziehungen zu be- stimmten Pflanzenarten: Ökologische Syste- me sind ein Netzwerk von Wechselwirkungen und Interaktionen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftler des Fraunhofer-Instituts für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik IPK nehmen sich die Natur zum Vorbild. Sie entwickeln im Projekt BioFusion 4.0 unter anderem ein Plattformkonzept für die produzieren- de Industrie, das eine dynamische Aufgabenverteilung zwischen Mensch und Maschine ermöglicht und auf dem Prinzip der Selbstorganisation und Selbstoptimierung ba- siert. Dabei werden die Produktionsbeteiligten intelligent vernetzt, sodass sie selbstständig miteinander kommuni- zieren und sich flexibel koordinieren können. »Resiliente Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich an Veränderungen und Anforderungen in ihrer Umgebung selbstorganisiert anpassen«, erklärt die fach- liche Projektleiterin Theresa Riedelsheimer vom Fraun- hofer IPK. »Im Gegensatz zu herkömmlichen Produk- tionsprozessen, die über eine zentrale Steuerung optimiert werden, gilt hier das Prinzip Dezentralität durch Indi- vidualität.« Das Fraunhofer IPK entwickelt dazu eine Software, in der jedes am Produktionsprozess beteiligte Element indi- viduell erfasst wird; sie bildet digital dessen spezifische Merkmale, Eigenschaften, Zustände und Verhaltensweisen ab – vom altgedienten Logistik-Roboter bis zurHightech- Fräsmaschine. IT-Experte Christopher Mühlich vom Fraun- hofer IPK: »Nach dem Vorbild der natürlichen Artenviel- falt können sie als autonome Einheiten Informationen empfangen, senden und so die Produktion steuern.« Diese digitalen Repräsentanten, sogenannte Digitale Zwillinge, sind das grundlegende Element der dezentral organisierten Plattform. Um Produkte und Maschinen eigenständig handlungs- sowie kommunikationsfähig zu machen, werden sie zu »virtuellen Agenten« erweitert, die auf die jeweilige Rolle, Fähigkeiten und Verantwort- lichkeiten der digitalen Repräsentanten abgestimmt sind. Ein Agent ist ein Softwaresystem, das in einer be- stimmten Umgebung situiert ist und das in der Lage ist, 86 autonom Aktionen in dieser Umgebung auszuführen, um seine individuellen Zielsetzungen zu erreichen. Ebenso wie Organismen in natürlichen Ökosystemen, bei denen jeder eine bestimmte Funktion erfüllt und in Beziehung zu anderen Organismen steht, können auch diese virtu- ellen Agentensysteme durch Vernetzung kommunizieren, Aufgaben verhandeln und Entscheidungen treffen. Damit weiß die Maschine selbst, ob sie Kapazitäten frei hat oder den Auftrag an den Kollegen weiterleitet. In der Zielvi- sion steuern Produkte aktiv ihren Produktionsprozess und Geräte bestimmen selbstständig die nächsten Arbeits- schritte. Vorbild für den Aufbau der Agentensysteme ist das ko- gnitive Modell natürlicher Lebewesen – wahrnehmen, schlussfolgern, entscheiden. Ameisen nutzen diese Kette der Informationsverarbeitung bei ihrer pheromongeleite- ten Nahrungssuche, indem sie Düfte wahrnehmen, Infor- mationen einordnen und darauf basierend entscheiden, ob sie der Duftspur folgen oder einen anderen Weg ein- schlagen. Auf diese Weise entsteht ein vernetztes, sich selbst regulierendes digitales System, das genauso wie das natürliche Ökosystem von lokalen Bedingungen beein- flusst wird und durch dynamische Anpassung im Gleich- gewicht bleibt. Das System erkennt zum Beispiel selbst, ob alle Agenten effektiv arbeiten, sodass keine Über- oder Unterbelastung entsteht. Entscheidend sind dabei Rück- koppelungsschleifen, die es dem System ermöglichen, aus Fehlern zu lernen. Weiterer Vorteil der dezentralen Plattformlösung ist, dass jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter einen eige- nen Zugang zum Netzwerk der Agenten besitzt und den aktuellen Prozesszustand im Blick hat, um bei Bedarf Änderungen vorzunehmen. Ähnlich wie in einem Öko- system können diese Mechanismen dazu beitragen, dass das System widerstandsfähiger wird, indem es auf un- vorhergesehene Ereignisse reagieren und sich ständig verbessern kann. Entwickelt wird die Plattform unter anderem in der Montage von Modulen für batterieelekt- rische Fahrzeuge. Bereits gestartete Tests mit Industrie- partnern sollen zeigen, wie die Umsetzung in die Praxis gelingen kann. k c o t S e b o d A / v o g a y m r A y e r d n A : o t o F

CURT kann, was Glyphosat nicht kann Wie der Unkrautvernichter bekämpft der Outdoor­Roboter Beikraut auf den Feldern – allerdings selektiv, ohne andere Pflanzen zu schädigen. »Er kann also«, sagt CURT-Entwickler Kevin Bregler vom Fraunhofer IPA, »Brennesseln am Feldrand stehen lassen, während er andere Beikräuter ausrupft.« Dafür fährt der Outdoor- Roboter vollelektrisch, ausgestattet mit Laserscanner, Kamera und GPS-Modul, und fräst unerwünschten Bewuchs vom Feld.